Um es gleich vorweg zu nehmen: „Die erleuchteten Fenster“ sind ein Schmuckstück der deutschsprachigen Literatur, und es hat wenig seinesgleichen.
Zum Inhalt: Der Amtsrat Zihal geht in Pension. Um seine Kosten zu minimieren und der im Verleich zum vorherigen Gehalt tieferen Pension anzupassen, beschliesst er umzuziehen, führt den Beschluss auch richtig aus. Seine Haushälterin steht im dabei zur Seite, so, wie sie ihm auch am neuen Ort zur Seite stehen wird. Das klingt nun ein wenig nach Canettis „Blendung“, doch Zihal ist ein anderer. Die Haushälterin tritt komplett in den Hintergrund, und in den Vordergrund schiebt sich etwas völlig anderes.
Zihal nämlich wird durch Zufall an seinem ersten Abend in der neuen Wohnung der Tatsache gewahr, dass er aus den Fenstern seiner Wohnung verschiedene andere, erleuchtete Fenster sieht. Das wäre ja nun nichts Spezielles. Speziell ist, dass diese Fenster durch keinen Roll- oder Fensterladen, durch keinen Vorhang, die Sicht in das jeweilig Zimmer hinein behindern. Und hinter diesen Fenstern nun befinden sich Schlaf- oder Umkleidezimmer jüngerer oder älterer Damen. Von einer Sekunde auf die andere verwandelt sich Zihal. Nicht im Schlaf und nicht in ein körperliches Ungeziefer, wie bei Kafka. Zihal wird Knall auf Fall zum Voyeur.
Doch es wird kein gewöhnlicher Voyeur aus ihm. Wohl besorgt er sich einen Feldstecher, später sogar ein Fernrohr, um seiner Leidenschaft zu frönen. Wohl stellt er die Möbel um und verzichtet konsequent darauf in seinen Zimmer Licht zu machen, auf dass er besser beobachten könne. Aber Zihal bleibt auch als Pensionist und Voyeur Amtsperson. Detailliert und in klassischer Amtssprache notiert er, wann er aus welchem seiner Fenster in welchem der gegenüberliegenden Fenster welche Aussicht hat, um welche Uhrzeit die Damen sich zu zeigen pflegen, welche Vorsichtsmassnahmen gegen ein Herunterfallen von der Fensterbrüstung oder gegen ein Entdecktwerden zu treffen sind.
Mit dieser Systematisierung rechtfertigt Zihal seinen Voyeurismus nicht nur für sich selber (er findet sie „conzeptmäßig und in der Ordnung befindlich“). Er wächst damit auch über jeden platten Voyeur hinaus. Doderer macht das deutlich, indem er ihm einen zweiten Voyuer gegenüberstellt. Die beiden entdecken einander zufälligerweise nachts, wie sie sich aus gegenüberliegenden Fenstern im Dunkeln angucken. Wänzrich, so heisst der zweite, stellt sich dann Zihal vor und ersucht ihn im die Gefälligkeit, nachts aus seinem Fenster gucken zu dürfen, da er von Zihals Wohnung aus den bedeutend bessern Blick ins Fenster seiner Angebeteten hat. Zihal erlaubt es ihm.
Mit dieser Profanierung seines Sternenhimmels ist dann auch schon dessen Ende eingeläutet worden. Es kommt fast so rasch wie der Anfang. Irgendwann scheint die Angebetete ihren Wänzrich erhört zu haben, jedenfalls kommt der nicht mehr und im Fenster dieser Frau sind nun plötzlich die Jalousien heruntergelassen. Dann stürzt Zihal mit seinem Sessel vom Tisch, auf den er ihn gestellt hat, um besser beobachten zu können, wobei sein Fernrohr zerbricht. Zihal wendet sich wieder der Realität zu und scheint zum Schlusse ebenfalls eine Eroberung in Fleisch und Blut gemacht zu haben.
Zwischendurch erscheint eine kleine Nebenfigur, Figur im wahrsten Sinne des Wortes, denn es handelt sich um eine Nippesfigur aus Porzellan, eine Venus darstellen, die zwar nackt ist, aber mit einer Hand keusch ihr Geschlecht verdeckt. Ein Symbol für Zihal, der zwar auch der Sexualität in Form seines Voyuerismus huldigt, zugleich aber seine erleuchteten Fenster in einen keuschen Sternenhimmel umwandelt?
Doderer hat die Figur „Zihal“ zwar von seinem Freund Paris von Gütersloh erhalten, was er aus ihr machte, ist aber einzigartig: Zihal, der sein eigenes Chaos (scheinbar) Ordnende. Zihal, seinem eigenen Wesen völlig verständnislos gegenüberstehend, ja, es nicht einmal bemerkend. Zihal, schon fast ein Autist. Zihal als Symbol der Absurdität des Lebens, wie es selbst ein Kafka oder ein Canetti nicht hingebracht haben.