Umso größer mein (freundiges!) Erstaunen beim vorliegenden Buch: Heuser war eigentlich Mathematiker (der aber ein Philosophiestudium absolviert hat) und ist vor allem für seine Einführungsbände in die Analysis bekannt geworden (die ich bislang nicht kenne). Nichts, was ihn für eine kleine Geschichte der Vorsokratiker qualifizieren würde – und dennoch: Das gehört zum Besten und Originellsten, was ich diesbezüglich gelesen habe. Nicht nur spürt man eine profunde Kenntnis der Materie, er hat auch ein untrügliches Gespür für die entscheidenden (neuen) Denkmuster dieser Periode und versteht das Revolutionäre glänzend herauszustellen. Wobei er auf den 300 Seiten sich nicht um eine (nicht mögliche) umfassende Darstellung bemüht, sondern anhand einiger dieser Naturphilosophen den Aufstieg einer neuen, wissenschaftlichen Denkweise (Methodologie wäre zu viel gesagt) exemplifiziert.
Originellerweise beginnt er diese Reise mit Homer: Weil er in ihm bzw. dem ihm zugeschriebenen Werk erste Ansätze einer Entmystifizierung des Denkens sieht. Und gleichzeitig einem dem Diesseits zugewandten Geist: Nicht nur die Götter brechen in Lachen aus, auch die Protagonisten der Ilias und der Odyssee genießen das Leben und sind von den orientalischen Einflüssen eines strafenden Jenseits weitgehend unbeleckt. Schon in Odysseus glaubt Heuser jenen ionischen Rationalismus Fleisch geworden, der sich in weiterer Folge bei den Milesiern, Xenophanes oder den Abderiten Protagoras und Demokrit zeigt.
Und so wird Heuser nicht müde den Unterschied herauszustreichen, der mit den (im Ergebnis unzureichenden) Versuchen einer rational-empirischen Welterklärung (beginnend mit Thales) verbunden ist. Ob das Wasser, die Luft oder auch das apeiron (nun gut – das vielleicht weniger) als „arche“ in Anspruch genommen wird, erstmals wird auf supernaturalistische Schöpfungskonzeptionen verzichtet, erstmals kann sich eine Theorie auch als falsch erweisen (was nun eindeutig für dieselbe spricht). Wobei es – glücklicherweise – nicht nur um eine vollständige Erklärung des Kosmos geht, sondern man sich auch um eine Erklärung einzelner Phänomene bemüht: Ob dies nun eine Sonnenfinsternis ist, ein Erdbeben oder die Überschwemmung durch den Nil. Wenn die Resultate auch manchmal kurios anmuten (allerdings hat Thales zumindest richtig vermutet, dass der Mond sein Licht von der Sonne erhält), so sind es die überprüfbaren Erläuterungen, die ganz ohne blitzeschleudernden Zeus oder dreizackbewehrten Poseidon auskommen, die die kaum zu überschätzende Umwälzung im Denken charakterisieren.
Dabei verfährt Heuser mit vielen Größen der Antike angenehm respektlos: Immer wieder weist er implizit auf die Rückschritte hin, die vor allem im Denken Platons (aber auch des Aristoteles) zum Ausdruck kommen, ein Denken, das nicht nur die Natur als ein mediokres Nebenprodukt einer idealen Geisteswelt betrachtet (und der Untersuchung nicht für wert befindet), sondern auch doktrinär ist (so würde Platon nichts gegen eine Vernichtung der Schriften Demokrits einzuwenden haben, während diesem an kritischer Auseinandersetzung gelegen war und auch in politischer Hinsicht dem Vordenker aller Diktatoren ein Dorn im Auge gewesen sein dürfte: „Die Armut in einer Demokratie ist dem gepriesenen Glück bei den Fürsten um so viel mehr vorzuziehen wie Freiheit der Knechtschaft“ – das hätte dem Verfasser des „Staates“ wohl als blanker Unsinn geschienen).
Als Mathematiker widmet Heuser den Pythagoreern natürlich ein eigenes (durchaus kritisches) Kapitel, während seine wahre Liebe eher Xenophanes, Protagoras und vor allem Demokrit gehören. (Der Schule von Hippokrates wird ebenfalls ein eigener Abschnitt zugestanden, war sie doch die erste, die – weitgehend – auf obskure Besprechungen der Krankheiten und wundertätige Mittel aller Art verzichtete – zu Gunsten einer Medizin, die sich an der Erfahrung orientiert. Der globolischluckende Normalbürger kehrt hingegen zurück zum Wunderglauben der vorhippokratischen Zeit – außer wenn es ihm wirklich schlecht geht. Einen entzündeten Wurmfortsatz lässt man sich denn doch meistens durch die Schulmedizin entfernen und verzichtet auf die Zuckerkügelchen.) Es ist der kritisch-rationale Geist dieser Denker, der imponiert (und der einzig den Fortschritt in Gang gesetzt hat, was von der rationalistischen Ideenwelt irgendwo weit jenseits der sublunaren Welt in fernen transzendenten Weiten nicht behauptet werden kann), ein diesseitiges Denken, dem irdischen Leben und Fortkommen gewidmet. Wobei Heuser mehrfach darauf hinweist, dass eine solche Haltung auch heute noch der rechten Anerkennung entbehrt, während es ein „griechisches Spezifikum bleibt, dass Ordnung und Gesetz [insbesondere das Naturgesetz] als etwas Schönes und sogar Tröstliches empfunden werden, also zum ganzen Menschen sprechen und nicht nur zu dem Teil, den die Gurus unserer Zeit abschätzig die ‚bloße Ratio‘ nennen und von der jeder, der keine hat, glaubt, es gäbe davon zu viel.“ Das hat er schön gesagt und dem ist auch nichts hinzufügen.
Das Buch ist klug, zeugt von einem scharfen Geist und umschifft sogar jene Klippen, an denen andere (so sie sich daran versuchten) kläglich scheitern: Wenn da nämlich zum besseren Verständnis Dialoge fingiert werden zwischen griechischen Philosophen. (Wer Hofstadters hilflose Stammeleien in „Gödel, Escher, Bach“ gelesen hat, weiß, wovon ich rede). Auch diese Unterhaltungen (zwischen Thales und seinem „Schüler“ Anaximander oder Charmides und Glaukon) sind witzig und von beachtlichem Esprit, keine platten, trivialen Gags, die man peinlich berührt über sich ergehen lässt. Insgesamt ein Glücksfall von einem Buch, kompetent, geistreich und ein Autor, der bissig und humorvoll zu formulieren weiß.
Harro Heuser: Als die Götter lachen lernten. Griechische Denker verändern die Welt. München: Piper 1997.