Rüdiger Lohlker: Die Salafisten

Rüdiger Lohlker ist Professor für Islamwissenschaften an der Uni Wien und bringt unzweifelhaft das entsprechende Fachwissen für ein Buch zu diesem Themenbereich mit. Dass es trotzdem ein eher zweifelhaftes, manchmal langweilendes Lesevergnügen ist, liegt zum einen an überbordendem Name-dropping (die Zahl der hier zitierten Interpreten des Koran oder der Hadithen ist Legion, leider erschöpfen sich die Informationen zumeist in der Nennung des Namens und einigen wenigen Zeilen, sodass es recht schwer fällt, die Entwicklungen nachzuvollziehen), zum anderen an einem grundsätzlichen Missverständnis über das Selbstverständnis von (geoffenbarten) Religionen.

Salafismus orientiert sich an den „Altvorderen“, konkret an den knapp auf den Propheten aufeinanderfolgenden Generationen, die nach Meinung seiner Vertreter noch den wahren Islam gelehrt haben, einen Islam, den es wiederzuentdecken und zu verbreiten gilt. Lohlker bemüht sich um Abgrenzung vom saudischen Wahhabismus und vom Dschihadismus, muss aber immer wieder diverse Überschneidungen eingestehen. (Ich bezweifle, ob die missionierenden Koranverteiler in den Fußgängerzonen sich dieser Unterschiede immer bewusst sind.) Grosso modo richtet sich der Salafismus gegen Neuerungen aller Art (wenngleich es zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar szientistische Strömungen gegeben hat), gegen Schiiten und alle Formen des Sufismus (vor allem der Verehrung großer Prediger). Dabei sind Salafisten von jenem Dünkel erfüllt, der da alle religiösen Eiferer befällt – egal welcher Religion sie angehören: Sie glauben sich im Besitz einer Wahrheit, die diese Bezeichnung noch nicht einmal in Ansätzen verdient, da diese ihre Wahrheit in der (immer) willkürlichen Auslegung irgendwelcher (meist verderbter und schlecht überlieferter) Schriften besteht (dies pflegt im Christentum dasselbe zu sein).

Und genau diese Beliebigkeit der Interpretation ignoriert Lohlker durchgehend. Religionen, die auf „heilige“ Bücher Bezug nehmen und deren Schriften (göttlichen) Offenbarungscharakter haben, widerlegen sich immer selbst: Denn ihre allzu irdische Herkunft zeigt sich allzubald in ihrer Widersprüchlichkeit. Deshalb ist es auch immer lächerlich und unsinnig, von richtigen, falschen, alternativen oder modernen Auslegungen zu sprechen; aus all dem Geschreibsel, das immer das Abbild einer archaischen Gesellschaft darstellt, kann selbstredend auch alles und jedes abgeleitet werden. (Da der Text sich eben auf archaische Strukturen bezieht, ist eine kriegerische und gruppenorientierte Auslegung, die auf Gewalt gegenüber Fremden und Unterdrückung sozial benachteiligter Gruppen (etwa Frauen) beruht, zumeist sehr viel plausibler als eine „moderne“, die hilflos uraltes Stammesdenken (weil ja göttlich) unserer Zeit anzupassen sucht.) Schon die Bibel gibt sehr viel öfter Anregung dazu, dem anderen den Schädel einzuschlagen und Frauen zu vergewaltigen, als die andere Wange hinzuhalten (wobei auch die Bergpredigt mit Intoleranz und ewigen Höllenqualen endet, was man geflissentlich zu ignorieren pflegt).

Beim Koran und den Hadithen ist das genau dasselbe: Versuche, aus diesen Überlieferungen eine humanistische Ideologie zu basteln, müssen zum Scheitern verurteilt sein. Tatsächlich haben die Hardliner (ob bei Christen oder Muslimen) die „Schrift“ auf ihrer Seite: Die Häufigkeit, mit der zu Gewalt, Mord und Totschlag aufgerufen wird, ist ungleich größer als die Passagen, die an das Mitgefühl der Gläubigen appellieren (wobei dieses Mitgefühl sich stets auf die eigene Gruppe beschränkt). Wenn also Lohlker in den letzten Abschnitten hoffnungsfroh die Möglichkeit eines „anderen“ Islam verkündet, so verkennt er einerseits die prinzipielle Intoleranz von Religionen (was von Gott oder diversen von Gott gesandten Geistern diktiert wird, ist wahr – woraus folgt, dass alles andere falsch sein und verfolgt werden muss), andererseits die prinzipiell supernaturalistische (und antirationalistische) Grundeinstellung von Gläubigen: Wem ich ein Paradies (mit und ohne Jungfrauen), eine Wiederauferstehung, die unbefleckte Empfängnis oder die wiederholte Erscheinung des Erzengel Gabriel schmackhaft machen kann, der wird auch einem aus diesen Schriften abgeleiteten Mordaufruf leichter folgen (weil letzterer wohl besser begründet und glaubhafter dargestellt werden kann als die zuvor angeführt Wundersammlung). Warum sollte ein Gläubiger die Auslegungen eines Priesters oder Muftis hinterfragen, wenn er zuvor bereits auf allerlei wundergläubigen Unsinn eingeschworen worden ist. Die Religion an sich ist das Problem, ihre dogmatische Grundhaltung neben einem Kritikverbot, das eigenes Denken unterbindet.

Deshalb ist das ganze Gerede von einem „anderen“ Islam, einem „anderen“ Christentum einfach nur Humbug. Und im Grunde haben die orthodoxen Verfechter eines rigiden Denkverbots im Sinne ihrer Religion völlig recht (wobei sie auch bei der Bezugnahme auf die „heiligen“ Schriften im Vorteil sein dürften gegenüber den Reformern): Wer grundsätzlich Kritik an religiösen Inhalten zulässt, ist der Totengräber dieser Religion. Es gibt keinen aufgeschlossenen Glauben und kann keinen geben (das ist eine contradictio in adiecto): Eine solche Kritik zuzulassen wäre der Anfang vom Untergang (im übrigen ging es der kommunistischen Staatsreligion in der ehemaligen Sowjetunion ganz ähnlich; Glasnost und Perestroika waren Konzepte, die mit dieser Form von Herrschaft nicht kompatibel waren). Und wenn eine solche Kritik schließlich erlaubt wird (wie im verwässerten Christentum Westeuropas), dann ist das eine erzwungene Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen (so wie die katholische Kirche 1963 resignierend die Demokratie als legitime Staatsform anerkannt hat, anerkennen musste).

Deshalb ist dieses Buch auch wenig befriedigend: Das rein Informative ist unstrukturiert, das tatsächliche Problem wird überhaupt nicht erkannt. Diese toleranten Religionsapostel, die von einem humanen und toleranten Islam (oder Christentum) reden, müssen – um dies zu tun – die dogmatischen Grundprinzipien jeder Religion verleugnen (jede Religion fordert von ihren Anhängern den Glauben an eine unglaubliche Menge an Unsinnigkeiten und Verrücktheiten, die außerhalb der religiösen Sphäre stante pede zur Einlieferung in eine psychiatrische Klinik führen würde). Ein solches Denken ist mit einem humanen Liberalismus völlig unvereinbar, der Widerspruch kann nur aufgehoben werden, indem ein Teil auf seine Grundprinzipien Verzicht leistet. Glücklicherweise war es in den letzten Jahrhunderten stets die Religion, die Abstriche machen musste (zum berechtigten Ärger der Orthodoxen), wobei dem Christentum die antiquierten Haltungen zumeist schon peinlich sind (so hat man die Hölle mittlerweile entvölkert und der Euhemerismus hat selbst in katholischen Kreisen Einzug gehtalten). Dass der Islam denselben Weg gehen wird, scheint auf längere Sicht nicht unwahrscheinlich (auch wenn die derzeitige Lage dem zu widersprechen scheint): Auf Dauer werden sich weder die Machtstrukturen halten lassen (bzw. nur unter Einsatz von rücksichtsloser Gewalt), aber auch die Diskrepanz von Uralt-Weltbild und modernem Wissensstand wird die Orthodoxie aushöhlen. Das vorliegende Buch trägt leider wenig zu einem Verständnis dieser religiösen Strukturen bei: Ein bisschen Historie, ein bisschen Politik – und eine sehr oberflächliche Sonntagspredigt.


Rüdiger Lohlker: Die Salafisten. Der Aufstand der Frommen, Saudi-Arabien und der Islam. München: Beck 2017 (ebook)

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