Was haben Gottfried Keller und Theodor Fontane mit dem Schicksal der einzigen Tochter des Schweizer Eisenbahnkönigs Alfred Escher zu tun? Nun, direkt eigentlich gar nichts; indirekt aber dann doch so einiges. Und damit meine ich nicht den Umstand, dass die Autorin der vorliegenden Biografie, Regina Dieterle, von 2010 bis 2014 Vorsitzende der Theodor Fontane Gesellschaft gewesen ist – das weist höchstens darauf hin, wie sie auf die Idee gekommen sein könnte, dieses Buch zu schreiben.
Regina Dieterles Biografie der Lydia Welti-Escher beschreibt das Schicksal ihrer Protagonistin auf zwei Ebenen. Da ist das eigentliche, persönliche Schicksal der Lydia Escher, und da sind die prominenten Statisten Keller und Fontane. (Denn um mehr als um Statisten handelt es sich bei ihnen aus der Sicht von Lydia Escher nicht.)
Das persönliche Schicksal der Lydia Welti-Escher
Lydia war das einzige Kind des Zürcher Unternehmers Alfred Escher, welches lange genug lebte, um heiraten, lieben und an der Liebe sterben zu können. Es gab eine Zeit, als Escher die Politik der liberalen Partei der Schweiz in vielem prägte. Das war zugleich die Zeit, als die liberale Partei die Politik der Schweiz in praktisch allem prägte. Bezeichnend für diese Epoche ist die Tatsache, dass die Wirtschaft schalten und walten durfte, wie es ihr gefiel. Vor allem im Kanton Zürich war das der Fall. (Hier schaut schon kurz Gottfried Keller herein, der ursprünglich ein Gegner des „Systems Escher“ – eine Umschreibung für das Netzwerk von Politikern und Unternehmern, die sich gegenseitig Aufträge zuschoben und dabei politisch deckten – später, von den Liberalen berufen, indirekter Nachfolger Eschers im Amt des kantonalen Staatsschreibers wurde, also des Leiters der kantonalen Verwaltung.) Lydia wuchs in mehr als nur guten Verhältnissen auf. Die Familie bewohnte ein herrschaftliches Anwesen in Zürich-Enge (das heutige Belvoir, in dem sich ein von einer Hotelfachschule betriebenes Restaurant befindet). Der einmal arrivierte Gottfried Keller war dort ebenfalls zu Gast.
1883 heiratete Lydia Escher Friedrich Emil Welti, den Sohn des damals mächtigsten Bundesrats Emil Welti. Emil Welti stilisierte sich gern als Bismarck der Schweiz. Natürlich gehörten Welti und Escher derselben Partei an. Was aussieht, wie eine arrangierte, dynastische Heirat – immerhin brachte Friedrich Emil den politischen Einfluss ein, Lydia das Geld, das es ihrem Mann erlaubte, nun auch wirtschaftlich Karriere zu machen –, wurde offenbar ohne Wissen und Zustimmung der beiden Elternteile geschlossen. (Es sollte auch nicht mehr lange dauern, bis sich zeigte, dass Alfred Escher mit dem Bau der Gotthard-Bahn den Bogen überspannt hatte. Immer höhere Kosten, die er nur schlecht rechtfertigen konnte, ließen den Bundesrat das Vertrauen in Escher verlieren. Er wurde unter Federführung Emil Weltis de facto entmachtet und verbrachte den kurzen Rest seines Lebens schmollend im Belvoir.)
Mit der Heirat bzw. der Etablierung des junges Paares im verwaisten Belvoir kommt Karl Stauffer ins Spiel, ein Schulkamerad Friedrich Emils aus Berner Zeiten – seines Zeichens aber aus ärmlichen Verhältnissen stammend. Er hatte sich zum Maler und Radierer ausbilden lassen und auch eine Zeitlang in Berlin gelebt. Vielleicht gab es damals in Künstlerkreisen einen zweiten Karl Stauffer, jedenfalls datiert aus jener Zeit der Namenszusatz „Bern“, den der begabte und rasch bekannt gewordene Maler nun trug: Karl Stauffer-Bern. Mit Fontane haben sich Stauffers Berliner Kreise übrigens nicht überschnitten, während er danach in Zürich durchaus mit Gottfried Keller in Kontakt kam, mit ihm zusammen wohl so manche Flasche Wein geleert haben muss. (Es gibt dazu nicht nur Anekdoten, sondern auch ein berühmtes Portrait Stauffers von Gottfried Keller. So, wie es auch Stauffers Portrait des Schriftsteller-Kollegen Conrad Ferdinand Meyer gibt, das bis heute immer wieder reproduziert wird, wenn es um diesen geht.)
Stauffer war bekannt genug, dass Friedrich Emil Welti es seiner Reputation angemessen empfand, ihn zu engagieren, um ein Bild seiner Frau zu erstellen. Ab hier liegt nun einiges im Dunkeln; was genau geschehen ist, kann oft nur noch vermutet werden. 1888 ging Stauffer-Bern nach Rom, um dort die Bildhauerei zu erlernen. In seiner Begleitung war Lydia Welti-Escher. Dem jungen Ehemann gefiel das gar nicht. Er mobilisierte seinen Vater, der seinerseits den Schweizer Gesandten in Rom mobilisierte. Was heute undenkbar erscheint (und schon damals keineswegs Rechtens war!), geschah: Lydia wurde eine Zeitlang in ein Irrenhaus gesperrt; Karl kam ins Gefängnis. Beide kamen wieder frei. Lydia wurde zu ihrem Mann spediert, von wo aus sie verlauten ließ, dass sie gegen ihren Willen von Stauffer-Bern nach Rom gelockt worden sei. Diesem wiederum, unterdessen in Biel lebend, brach die Nachricht davon im übertragenen Sinne das Genick (im wörtlichen hat er sich 1891 in Florenz mit einer Überdosis Medikamente umgebracht). Lydia, unterdessen geschieden und damit in der damaligen Zürcher Gesellschaft geächtet, kehrte zeitweilig nach Rom zurück. Mit dem Teil des Geldes, der ihr nach der Scheidung geblieben war, errichtete sie eine Kunststiftung. Sie wollte dieser eigentlich ihren eigenen Namen geben; man (Mann!) überredete sie aber, sie doch nach dem vor kurzem verstorbenen Gottfried Keller zu benennen. (Die Stiftung mit Sitz in Winterthur existiert bis heute. Sie ist in der paradoxen Situation, dass sie zwar auf dem Papier sehr vermögend ist (ihr gehören einige der wertvollsten Gemälde, die in Schweizer Museen ausgestellt sind), aber zugleich auf Grund vieler Fehlentscheidungen in der jüngsten Vergangenheit – so wurde das Belvoir überstürzt verkauft – alles andere als liquide, und ihren Stiftungszweck, die Erhaltung von Schweizer Kunst durch den Ankauf künstlerisch wertvoller Werke, nicht mehr erfüllen kann.) Noch im gleichen Jahr wie ihr offenbar doch geliebter Karl beging auch Lydia Selbstmord, indem sie in ihrer Villa den Gashahn öffnete.
Lydia Welti-Escher, Gottfried Keller und Theodor Fontane
Gottfried Keller, haben wir bereits gesehen, kannte Lydia zumindest als Kind persönlich, ebenso wie er den andern Protagonisten der traurigen Story, Karl Stauffer-Bern, persönlich kannte. Als sich die Situation des Paares so dramatisch zuspitzte, war er selber allerdings bereits auf den Tod erkrankt. Es ist fraglich, ob er über die Entwicklungen überhaupt noch informiert war.
Die Verbindung Fontanes zum Schicksal von Lydia Welti-Escher und Karl Stauffer-Bern ist nun wirklich nur indirekt. Er hat weder sie noch ihn je persönlich kennen gelernt. (So wenig übrigens, wie Gottfried Keller!) Fontane erfuhr die Geschichte über Zeitungsberichte und Bücher seines Kritiker-Kollegen Otto Brahm. Dieser besuchte in jener Zeit Zürich, um Portraits (geschriebene, nicht gezeichnete!) von Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer anzufertigen. Fontane (und, so suggeriert Regina Dieterle, vor allem seine Tochter Meta!) war fasziniert vom Schicksal dieser Frau, die als eine der ersten versuchte, sich von der Bevormundung durch die Männer zu lösen. Der Berliner schrieb zu jener Zeit (unter anderem) an seiner Effi Briest, und auch wenn das eigentliche reale Vorbild der Effi eine andere war, so bleibt für Regina Dieterle doch kein Zweifel, dass auch das Schicksal der Lydia Welti-Escher in diesen Roman einfloss.
(Nebenbei: Auch Robert Walser kannte noch zumindest das Zuhause des unglücklichen Stauffer in Biel und erwähnt es diverse Male in seinen Schriften.)
Persönliches Schicksal und Literatur
Dass diese Biografie als äußerst gelungen bezeichnet werden kann, liegt daran, dass die Autorin das Schicksal der beiden Liebenden immer wieder bricht (unterbricht, ist man versucht zu sagen), indem sie darauf eingeht, wie es auf die beiden Autoren Keller und Fontane wirkte, wie diese beiden reagierten. Dadurch wird, was simples Melodrama oder feministisches Manifest hätte werden können, zu einem Sittengemälde einer Epoche, in der – auch vermittelt durch männliche Autoren wie Keller und Fontane – die Frau einen immer größeren Anteil an den Rechten der Männer geltend machte. Lydia Welti-Escher zerbrach an den Konventionen, an brutal ausgeübter nackter männlicher Gewalt. Aber auch wenn nun ihr Name nicht drauf steht, brachte sie es doch zu Stande, eine Institution zu errichten, die bis heute existiert und ihren Beitrag an die Schweizer Kunst- und Kulturgeschichte leistet. Erst mit ihrer Doppelspurigkeit – hie die unglücklich Liebenden, dort die kulturellen Seismographen in Gestalt zweier Autoren von Weltrang – hebt Regina Dieterle das Schicksal der Lydia Welti-Escher aus der Beliebigkeit heraus und gibt ihm den Rang eines jener Punkte, an dem die Geschichte anfängt, eine andere Richtung einzuschlagen, die sie ohne jenen Punkt nicht eingeschlagen hätte. Eine empfehlenswerte Lektüre!
Das schmale Büchlein ist, mit vielen Illustrationen Karl Stauffer-Berns versehen, dieses Jahr bei NIMBUS in Wädenswil erschienen.
1 Reply to “Regina Dieterle: «Zu sehr emancipirt»”