Hildegard Keller / Christof Burkard: Lydias Fest zu Gottfried Kellers Geburtstag

Lydia kennen die fleißigen Leserinnen und Leser dieses Blogs bereits. (Gottfried Keller sowieso.) Denn Lydia, das ist Lydia Welti-Escher, Tochter des Zürcher Eisenbahn-‚Barons‘ Alfred Escher vom Glas, verheiratet mit (Friedrich) Emil Welti, dem Sohn des Bundesrats Emil Welti, seinerseits der damals mächtigste Bundesrat. Von Haus aus nicht arm also, verheiratet mit einem ebenfalls nicht armen Mann. Sie ist die eine Protagonistin dieses Texts, der auf dem Buchrücken Roman genannt wird, den ich aber eher als Kurzgeschichte betrachte, fehlt mir doch jedwede Entwicklung der Figuren oder der Umstände, die für mich einen Roman wesentlich ausmachen, und liefert nur eine Momentaufnahme in der Beziehung zweier Menschen. Dieser andere Mensch, also der zweite Protagonist, ist aber nicht der im (Unter-)Titel erwähnte Gottfried Keller. Der Schriftsteller bleibt eine Figur im Hintergrund, die nicht einmal persönlich auftritt. Er ist der väterliche Freund Lydias – ‚väterlich‘, wie der Text selber expliziert, in doppeltem Sinn: Er war der Freund des zur Handlungszeit bereits verstorbenen Vaters Escher und gehört auch vom Lebensalter her zu dessen Generation. Nichtsdestotrotz möchte Lydia zu Kellers Geburtstag eine Feier bei sich in der väterlichen Villa in Zürich organisieren, wo sie unterdessen zusammen mit ihrem Mann Emil als Hausherrin lebt. Der Wunsch ist nicht ganz uneigennützig, wie uns der Text durch die Blume zu verstehen gibt. Natürlich will Lydia ihr gesellschaftliches Ansehen weiter aufpolieren dadurch, dass sie den berühmten Autor bei sich zu Hause hat. (Und natürlich darf an diesem Tag nicht der leichte Landwein getrunken werden, den Kellers Verwandte von Glattfelden soeben gebracht haben, mit der Bemerkung, dass es sich hier um Kellers Lieblingswein handle – Keller war ein grosser Weintrinker vor dem Herrn –, sondern es muss Burgunder sein, den Lydia aufstellt. Man ist sich das einfach schuldig.)

Sie will vor allem noch etwas anderes, und hier kommt der zweite Protagonist ins Spiel: Karl Stauffer-Bern. Seines Zeichens Maler und Bildhauer, gerade mit einigem Ruhm aus Berlin zurückgekehrt, soll er – sozusagen in ihrem Auftrag – ein Porträt von Keller (und von Meyer, dem anderen berühmten Zürcher Autor der Epoche) anfertigen. Und er soll auch sie (noch einmal) malen. Stauffer ging eine Zeitlang zusammen mit ihrem Mann zur Schule, stammte aber aus einer bedeutend weniger privilegierten Familie.

Der Text erzählt nun, wie Lydia am Morgen schon auf ihre ersten Gäste wartet, die da eben Keller sein sollen und Stauffer. Sie hat ihre private Kutsche an den in der Nähe gelegenen Bahnhof Enge geschickt, um Stauffer, der mit dem Zug eintreffen soll, abzuholen. Doch der Prolet(arier) Stauffer hat einen früheren Zug genommen und ist zu Fuß zur Villa spaziert. So füllt sich der zweite Teil der Geschichte mit den Dialogen der beiden. Wie schon erwähnt, geschieht im Buch – gar nichts. Es wird auch nichts erklärt. Als Leser:in ist man darauf angewiesen, die Geschichte von Lydia und Karl zu kennen – zum Beispiel aus Regina Dieterles Biografie der Lydia Welti-Escher, «Zu sehr emancipirt», die wir in unserem Blog bereits vorgestellt haben, und auf die sich die beiden Autoren Keller und Burkard in ihrem Nachwort Warten auf Gottfried ebenfalls beziehen. Allenfalls findet man in Lydias Fest Andeutungen der seltsamen, zumindest teil- und zeitweise eine Liebesbeziehung darstellenden Konfiguration Lydia-Karl, nämlich in den die Kapitel trennenden und olivgrün auf weiß gedruckten Zitaten aus Briefen und andern Dokumenten der beiden. Die Erzählung selber schildert höchstens eine gewisse Spannung, die sich zwischen den beiden unterm Warten aufbaut.

Damit habe ich aber erst einen Teil des Buchs vorgestellt, den ‚weißen‘ Teil sozusagen. Es gibt aber noch ‚blaue‘ Teile – nämlich zwei auf tatsächlich blauen Seiten gedruckte, die als eine Art Interludium zwischen zwei Kapiteln dienen. Schon der Roman selber weist von neun Kapitelüberschriften bei mehr als der Hälfte auf Essen hin: Den vier nicht-essbaren Überschriften (Prolog, Belvoir [der Name der Escher’schen Villa, damals noch am Rande Zürichs gelegen], Stauffer und Epilog) stehen nämlich deren fünf essbare gegenüber (Muscheln und Salbei, Erbsen, Sauerkraut, Kartoffelstock und Geflügelpastete). Die blauen Seiten vertiefen diesen kulinarischen Aspekt des Buchs.

Das erste Interludium, auf dunkelblauen Seiten, liefert ein paar kulinarisch-historische Informationen. Sei es zur Eisenbahn, die nicht nur den Personentransport revolutionierte, sondern auch den von Gütern – darunter eben auch Esswaren. Nur dank der Eisenbahn (und dank des von ihrem Vater durchgesetzten Gotthard-Tunnels!) konnte Lydia zum Beispiel für Kellers Geburtstagsfest Muscheln aus Italien auf den Speiseplan setzen. Informationen zum Fisch, der zu jener Zeit billiger war als Fleisch, direkt aus dem See stammte und gleich um die Ecke vom Belvoir verkauft wurde. Über den Konsum von Singvögeln und Schokolade. Die verheerenden Schäden, die die Reblaus in den Weinbergen anrichtete. Rindfleisch, das damals echten Luxus darstellte. Die aus Italien importierten und heute auch hierzulande einheimisch gewordenen Teigwaren (wie sie in der Schweiz heißen, andernorts nennt man sie ‚Nudeln‘ oder gebraucht gleich das italienische Wort ‚Pasta‘). Kartoffeln, Fertigmahlzeiten (die Maggi-Suppen entstanden zu Kellers Zeit, was ich auch nicht wusste) oder Kolonialwaren. Immer, wo möglich (und es gibt einige Möglichkeiten), mit Seitenblick und Hinweis auf deren Vorkommen in Gottfried Kellers Romanen und Novellen.

Das zweite Interludium dann – diesmal sind die Seiten hellblau – liefert die Rezepte der Gerichte, die Lydia an ihrem Fest auftischen ließ. Oder jedenfalls, wie die Rezepte hätten lauten können; mir will scheinen, dass einiges allzu modern, auf den heutigen Geschmack zielend, dargestellt ist. Andererseits ermöglicht wohl erst dies, die Rezepte in der Küche einer kleinen Mietwohnung auszuprobieren. (Wie denn auch die Mengenangaben wahrscheinlich – ich finde keinen genauen Hinweis – für vier Personen gerechnet sind, nicht für Lydias Fest mit rund zwei Dutzend Leuten.)

Fazit: Die Erzählung selber ist vielleicht nicht die ganz große Literatur, aber in Verbindung mit den blauen, kulinarischen Seiten ist ein gelungenes Werk entstanden, das genreübergreifend Belletristik mit Kulturgeschichte und Kochbuch verbindet.


Hildegard Keller & Christof Burkard: Lydias Fest zu Gottfried Kellers Geburtstag. Zürich: Edition Maulhelden, 2019. (3. verbesserte Auflage / = Edition Maulhelden N° 1)

Mit bestem Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

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