Ja, da sind sie nun: Hebels berühmte Kalendergeschichten, auf denen damals wie heute seine ganze Bekanntheit in der deutschen Literatur beruht. (Die ebenfalls großartigen Allemannischen Gedichte werden zwar in der Literaturgeschichte immer wieder erwähnt, sind aber selbst im deutschen Sprachraum nicht jedem so einfach zugänglich wie die Kalendergeschichten.) Sogar Goethe ließ sich die Kalender mit Hebels Geschichten nach Weimar schicken, ebenso wie die beim renommierten Cotta erschienene Zusammenfassung, das Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes.
Erstaunlich an diesen Kalendergeschichten ist, dass Johann Peter Hebel nur in wenigen Fällen, und nur im letzten Jahr seiner Tätigkeit als Redakteur, ein paar Geschichten tatsächlich als von ihm stammend markierte. Er, der zum Kalender ein bisschen gekommen war, wie die Jungfrau zum Kind – eigentlich war Hebel nur Mitglied einer Kommission gewesen, die dem schlecht gehenden lutheranischen Badischen Landkalender wieder auf die Beine helfen sollte – verstand sich immer nur als Bearbeiter von bereits bestehenden Geschichten, nicht als Erfinder von neuen. Allerdings gelang es ihm, den Geschichten einen ganz eigenen Ton zu geben, der bis heute mit Hebel und dem Hausfreund assoziiert wird. Das wurde schon zu seiner Zeit erkannt; und er konnte in späteren Auflagen stolz berichten, ungefähr 700 000 Leser und Leserinnen zu haben. Das überstieg die eigentliche Auflage um ein Vielfaches; aber es war damals gang und gäbe, dass solch ein Kalender nicht einfach von einer Person im stillen Kämmerlein gelesen wurde, sondern im Kreis der ganzen Familie, das Gesinde inklusive, meist vom Hausvater vorgelesen und von allen intensiv kommentiert. So mögen die 700 000 sogar hinkommen.
Die meisten Anekdoten und Geschichten stammen nicht von Hebel selber. Es sind Dinge, die er bereits andernorts zumindest im Grundgerüst gefunden hatte. Die vorliegende Werkausgabe gibt einige putative Quellen an. Allerdings ist das nicht unproblematisch, denn einige davon sind immer wieder auftauchende Wandergeschichten, die schon das Mittelalter kannte. Hebels literarisches Verdienst ist, neben dem Feilen an der inhaltlichen Form (gekonnte Zuspitzung auf die Pointe etc.), vor allem die Sprache, an der er ansetzt, und die den Ton seiner Erzählungen bis heute unverkennbar macht. Eigentlich verfügen alle Geschichten auch über eine Anwendung, eine Moral – aber Hebel versteckt diese sehr subtil, und auch Nicht-Lutheraner, ja Atheisten, können seine Anwendungen akzeptieren. Sie laufen ja in den meisten Fällen heraus auf ein simples „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu!“ oder auch ein „Memento mori!“ Hebel, der sein Zielpublikum kannte, hütete sich, philosophische oder theologische Spitzfindigkeiten einzuführen.
Doch es sind nicht nur Geschichten, die Hebel zu ’seinen‘ beiden Kalendern, dem Badischen Landkalender von 1803 bis 1806 und dessen Nachfolger, dem Rheinländischen Hausfreund von 1807 mit Unterbrüchen bis 1819 lieferte. (Und es sind nicht nur Geschichten, die er in sein Schatzkästlein aufnahm! Wikipedia bringt mit seiner Aussage, letzteres sei eine Auswahl der interessantesten Kalendergeschichten eine Halbwahrheit in Umlauf, die in ihrem Umfang an Desinformation grenzt.) Da sind zum Beispiel die in allen Kalendern bisher üblichen astrologisch-astronomischen Betrachtungen über die Regierenden Planeten. Anders als bei der Bearbeitung der Geschichten, wird Hebel hier wirklich schöpferisch tätig. Er ersetzt diese nicht mehr zeitgemäßen astrologischen Wettervorhersagen und Bauernregeln durch andere, aufgeklärte Texte und fügt dem Kalender weiter gehende astronomische Informationen hinzu. Auch hier hütet sich Hebel vor allzu viel Wissenschaft, immerhin fällt auf, dass es ihm wichtig ist, das in den Naturwissenschaften gerade sich durchsetzende heliozentrische Modell des Alls vorzustellen. Obwohl eine Übereinstimmung des heliozentrischen Modells mit den lutheranischen Glaubenssätzen zu Hebels Zeit theologisch noch keineswegs gesichert war, kam er damit durch. Ähnlich aufklärerischen Impetus beweist Hebel auch, wenn er für den Kalender historische Ereignisse zusammenfasst. Nicht nur aus dem 8. oder 9. Jahrhundert, mit Markomannen und Alemannen. Auch die Ereignisse rund um die napoléonischen Schlachten in Europa – und die Zeit von 1803 bis 1819 wimmelte davon! – werden von ihm im nächsten Kalenderjahr getreulich zusammen gefasst. Und – liebe Wikipedia – auch diese Beiträge werden von Hebel dem Schatzkästlein hinzugefügt, ebenso wie Gesundheits- und Ernährungs-Tipps, Ratschläge zur Aussaat und Düngung verschiedener Feldfrüchte oder eine Explikation der neu eingeführten Maßeinheiten. Selbst die Rätsel, die der Hausfreund jedes Jahr stellt (und deren Auflösung jeweils das Folgejahr brachte), sind im Schatzkästlein zu finden. Einzig, dass Hebel zeitliche Einordnungen, die im Kalender mit Formeln wie „vergangenes Jahr“ oder ähnlich durchgeführt wurden, durch Formulierungen ersetzt, die auch im ‚zeitlosen‘ Schatzkästlein eine korrekte zeitliche Einordnung erlauben. Oder der in späteren Auflagen des Kalenders immer wieder vorkommende Hinweis auf eine Abbildung, der fürs Schatzkästlein getilgt wird, weil dieses keine Abbildungen aufweist.
Ein Wort noch zur politischen Ausrichtung der Hebelschen Kalender. Es wurde Hebel von späteren Zeiten oder auch schon von Zeitgenossen immer wieder der Vorwurf gemacht, dass er mit seinem Kalender allzu obrigkeitstreu sei. Nun gilt hier wie überall: „Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing‘.“ Der Kalender war eine staatliche Einrichtung des badischen Markgrafen, der ihn auch finanzierte. Doch wird sich Hebel deswegen nicht allzu sehr verbogen haben müssen. (Das eine Mal, 1815, als ihm ein Beitrag gestrichen wurde, weil sich Katholiken durch ihn angegriffen fühlten, reagierte Hebel damit, dass er die Kalender-Redaktion niederlegte. Sich verbiegen war sein Ding nicht.) Hebel war wohl genuin ein Mensch, der nach Sicherheit in einem einigermaßen straff geführten Staat verlangte. Revolutionen waren nicht nach seinem Geschmack. (Der einzige Volksaufstand, der in den Kalendergeschichten geschildert wird, ist der Tiroler unter Andreas Hofer, und hier steht der Hausfreund ganz und gar nicht auf Hofers Seite. Die Französische Revolution ist im Kalender nicht-existent. Von Luther finden wir eine oder zwei Anekdoten – über den von ihm mitverschuldeten, aber auch verurteilten Bauernaufstand nichts.)
Problematisch wurde es dann für Hebel im Zusammenhang mit Napoléon. So lange dieser an der Macht war, finden wir immer wieder die eine oder andere Anekdote, in der er als gütiger und verständnisvoller Landesvater geschildert wird. (Wir finden auch Ähnliches zu andern Herrschern der Zeit, aber Napoléon überwiegt.) Das war, so lange Napoléon Europa nach Belieben dominierte, sowohl politisch in Ordnung, wie dem Weltbild Hebels entsprechend. Nachdem Napoléon aber endgültig abgesetzt war, wurde es schwierig. Hebel war nicht der Mann, der sein Mäntelchen einfach so in den neuen Wind hängen wollte. Es gibt einen – von der Zensur offenbar nicht bemerkten – Artikel, in dem sich Hebel über die plötzlich ausgebrochene Manie des Altdeutschen lustig macht, der er sich ganz explizit verweigert. Zwar verschwindet Napoléon aus dem Kalender – wirklich schlecht hat Hebel aber nicht über ihn geschrieben.
Band 3 der neuen Werkausgabe enthält in chronologischer Reihenfolge die Kalenderbeiträge in ihrer ursprünglichen Form. Vom Schatzkästlein figuriert nur das Inhaltsverzeichnis der ersten Auflage von 1811. Wie oben schon gesagt, sind die Unterschiede zwischen den beiden Versionen gering; wer die Schatzkästlein-Versionen der Geschichten bevorzugt, kann sie an Hand der ausführlichen Anmerkungen der Ausgabe rekonstruieren.
Alleine dieser Band lohnt die Anschaffung der Werkausgabe.
Johann Peter Hebel: Gesammelte Werke. Kommentierte Lese- und Studienausgabe in sechs Bänden. Herausgegeben von Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann unter Mitarbeit von Esther Stern im Auftrag der Literarischen Gesellschaft Karlsruhe. Band 3. Göttingen: Wallstein 12019
1 Reply to “Johann Peter Hebel: Kalenderbeiträge”