Daniel L. Schacter: Aussetzer

Daniel Schacter, ein Psychologieprofessor an der Harvard University in Cambridge, ist vor allem mit Büchern über die verschiedenen Formen des Erinnerns (respektive Vergessens) bekannt geworden. Im vorliegenden Buch analysiert er sieben verschiedene Fehlleistungen unseres Gedächtnisses, die jedem mehr-weniger bekannt sind.

Er beginnt mit der Transienz, dem ganz natürlichen Verblassen von Erinnerungen (was denn aber so nicht immer gewünscht ist). Aber schon hier wird deutlich, dass das, was der Betreffende als unerwünschte Fehlleistung ansieht, durchaus sinnvoll sein kann und von der Evolution so gewollt ist. Schacter geht zwar erst am Ende des Buches auf diese evolutionäre Fragestellung ein (und auf den Streit, was denn nun Adaption, Exaptation (eine Adaption, die zweckentfremdet wird) und Spandrille (Sonderform der Exaptation als eine Form einer unbeabsichtigten Begleiterscheinung eines ansonsten zweckmäßigen Merkmals) sei, ein Streit, der u. a. zwischen Jay Gould und Steven Pinker eskalierte), dennoch wird bereits hier deutlich, dass die „Fehlleistungen“ zumeist nur Auswüchse durchaus sinnvoller Funktionen sind. Denn zum einen wäre ein fotographisches Gedächtnis eine Vergeudung von Ressourcen (weil es viel sinnvoller ist, die tatsächlich wichtigen Dinge zu behalten), zum anderen verliert viel Erlebtes mit der Zeit seine Bedeutung für das Lebewesen (niemanden interessiert, was er vor einigen Monaten zu Abend gegessen oder welchen Pullover er getragen hat).*

Ähnlich verhält es sich bei der Geistesabwesenheit (die schon zu manch zeitaufwändiger Suche nach Autoschlüsseln und – in neuerer Zeit – Smartphones geführt hat). Hier finden Überlagerungen statt: Wir konzentrieren uns auf einen (vermeintlich?) wichtigeren Gedankengang (oder eine Handlung), während uns ein völlig automatisiertes Tun nicht in Erinnerung bleibt (ein solches „Funktionieren“ ist ebenfalls sinnvoll: Es schafft Kapazitäten für wichtigere Dinge). Das Phänomen der Blockierung (Unauffindbares, dass auf der Zunge liegt) ist eng mit dem rationellen Vergessen verknüpft: Es sind vor allem Namen (Eigennamen), die einem so gar nicht in den Sinn kommen wollen, die aber auch im Grunde unwichtige Attribute sind (von sehr viel mehr Bedeutung ist es, wie das Gegenüber einzuschätzen ist, ob man auf der Hut sein sollte oder es sich um einen freundlich gesinnten Menschen handelt).

Ein weiteres Kapitel ist der Suggestibilität gewidmet, die gerade zum Erscheinungsdatum des Originals (2001) zu großen Diskussionen führte. Denn es waren die 90er, in denen sich immer häufiger in psychotherapeutischen Sitzungen Abgründe auftaten, die sehr viel mehr über den Analytiker als über die behandelte Person aussagten. Eng damit verknüpft sind Verzerrungen, die uns eine spezifische Vergangenheit vorgaukeln, einer faktenbasierten Prüfung jedoch nicht standzuhalten. Dies steht häufig in Verbindung mit den Bemühungen, von sich selbst ein konsistentes Bild zu erschaffen, eine Kontinuität des Ichs zu erhalten. Wobei solche Erinnerungen manchmal ein Eigenleben zu führen beginnen (das Problem der Persistenz): Traumatische Ereignisse fallen nicht in Vergessenheit, sondern suchen uns immer wieder heim und vergällen das Leben. Wieder sind es die negativen Erlebnisse, die eine solche Dauer zu beanspruchen pflegen (weil für das Gedächtnis das Negative von größerer Bedeutung ist: Derlei zu erinnern kann überlebenswichtig sein, während dies die Freude – worüber auch immer – nur selten ist).

All diese Gedächtnis“fehlleistungen“ werden von Schacter mit Fallbeispielen und Studien unterlegt, wobei er nicht immer den dabei üblichen Fallstricken der Trivialität entgeht. So wird im Zusammenhang mit der Persistenz auch die Problematik depressiver Menschen erörtert und von den Erkenntnissen der Harvard-Psychologin Patricia Deldin berichtet, die festgestellt habe, dass „depressive und nicht depressive Individuen unterschiedliche Muster elektrischer Hirnaktivität bei der Enkodierung von positiven und negativen Informationen zeigen. Im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen waren bei depressiven Patienten die elektrischen Reaktionen auf negative Wörter stärker als auf positive.“ Ich weiß gerade nicht, warum mich das nun nicht überrascht (vielleicht weil man bei knieoperierten Personen im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe feststellen würde, dass jene öfter hinken als diese). Trotz mancher derartiger Banalität ist das Buch aber sehr gut lesbar und auch informtiv: Aber es ist sehr viel mehr Sach- als Fachbuch.



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