Griechische Lyriker

Dunkelblaues Muster auf hellblauem Hintergrund (oder umgekehrt), an ein Mäander-Fries erinnernd, nur dass hier viele Friese übereinander gestellt sind - im vorliegenden Ausschnitt aus dem Buchcover sieht man aber nur deren zwei.

Gänzlich überarbeitete Neuauflage, steht auf dem Titelblatt, und: Übertragen, eingeleitet und erläutert von Horst Rüdiger. Die neue Auflage sei denn auch, erklärt Rüdiger im seinem Vorwort, ein völlig anderes Buch geworden. Dies, weil er bei der ersten Auflage von 1949 praktisch ausschließlich auf seine private Bibliothek angewiesen gewesen sei, während er nun, 1968, wieder auf öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken habe zurückgreifen können. Allerdings erhebe diese bei Artemis in Zürich erschienene Sammlung auch heute keinen wissenschaftlichen Anspruch im engeren Sinne.

Tatsächlich war Professor Rüdiger kein klassischer Philologe im eigentlichen Sinn. Nach einem kurzen, aber meines Wissens nicht abgeschlossenen diesbezüglichen Studium schwenkte er über in die Germanistik, nach vielen Um- und Nebenwegen landete er endlich 1958 in einer Professur für komparatistische Literaturwissenschaft. Beides, Germanistik wie Komparatistik, merkt man der auf das Vorwort folgenden Einführung denn auch an – zusammen mit dem Umstand, dass das Zielpublikum gerade nicht die Fachleute waren. Immer wieder zieht Rüdiger nämlich Verbindungen von der antiken griechischen Lyrik zur deutschen (und manchmal auch zur lateinischen) Literatur: zum Beispiel von Anakreon zu den Anakreontikern des 18. Jahrhunderts (Wieland, Hagedorn, Gleim, Uz), oder er macht den Einfluss der Antike auf Klopstock und Hölderlin geltend, auf Goethe und Schiller (als Lyriker, wohl gemerkt) und zieht das bis fast in seine Gegenwart durch. Die jüngsten von ihm so erwähnten Lyriker sind Rilke und George. Ich wage fast zu behaupten, dass dies ausgebufften Lyrik-Lesenden wenig Neues bringt, wohl schon 1968 wenig Neues brachte, aber als eigentliche Einführung für neue Interessierte ist der Text sicherlich interessant.

Mit zwei Ausnahmen stammen alle Übersetzungen von Rüdiger selber. Originaltexte sind nicht dabei – nur schon dies macht das Buch für welche vom Fach natürlich wenig brauchbar; allenfalls können sie hie und da Rüdigers Text mit andern Übersetzungen vergleichen. Selbst dann aber weiß man nicht, auf welche Version, welche Überlieferung des Originals sich Rüdiger stützt. Das ist keine Kritik, das ist eine Konsequenz von Rüdigers Ansatz. Wer das nicht will, muss andere Ausgaben der antiken griechischen Lyrik suchen. Auch sind die meisten Autor:innen nur mit einer Auswahl aus ihrem Werk vertreten. (Wobei nur eine Frau vorkommt, Sappho. Trotzdem dürfte man heute den Titel Griechische Lyriker wohl so nicht mehr setzen. Er war ja schon damals eigentlich nicht nötig – „Griechische Lyrik“ hätte denselben Zweck erfüllt, denselben Sinn vermittelt.)

Werfen wir einen kurzen, teils kommentierten Blick ins Buch:

Archilochos

Ihn haben wir hier schon einmal in Gänze vorgestellt, worauf ich denn auch verweise.

Alkman

Eines der Beispiele für einen weniger bekannten Namen, den Rüdiger vorstellt. Zugleich einer der Ältesten in der Sammlung. Er klingt sehr interessant, aber um ihn besser einschätzen zu können, müsste ich mehr über die antike Chorlyrik wissen. Nun, ich vermute, dass es (auch) eines der Ziele des Herausgebers war, sein Publikum zu weiteren Recherchen, weiterer Lektüre zu verleiten.

Sappho

Auch sie haben wir hier schon einmal in Gänze vorgestellt, in einer englischen Übersetzung zwar, dafür in einer, die den fragmentarischen Charakter der überlieferten Gedichte Sapphos besser herausstreicht als Rüdigers doch glättende Version. Zugleich die einzige Frau in der Sammlung – was nicht unbedingt allein dem Herausgeber Rüdiger sondern zumindest auch der Überlieferung zuzuschreiben ist, die in der Antike kaum dichtende Frauen kennt.

Alkaios

Ein, ebenfalls aus Lesbos stammender, Zeitgenosse Sapphos. Seine Gedichte scheinen mir glatter (und auch platter) zu sein als die der Sappho. Das kann aber an der Übersetzung Rüdigers liegen, ohne ihm einen Vorwurf zu machen. Zumindest in der Antike wurde dieser Autor hoch geschätzt.

Xenophanes

Hatte ich es verdrängt, vergessen oder tatsächlich nie gewusst, dass dieser vorsokratische Naturphilosoph und Aufklärer auch Hymnen verfasst hatte? Nicht, dass man viel verpasst hat, wenn man sie nicht kennt, will mir scheinen.

Anakreon

Zusammen mit Archilochos, Sappho und Theokrit (s. weiter unten) einer der wenigen, die man heute noch, auch völlig unbeleckt von klassischer Philologie, lesen und genießen kann.

Dann folgt mit den Anakreontischen Versen und den Attischen Trinkliedern anonym überlieferte Kurzware, interessant für uns dadurch, dass von den vier en bloc überlieferten Trinkliedern ein gewisser Friedrich Hölderlin deren drei zusammengefasst und unter dem Titel Reliquie von Alzäus gestellt hat. Rüdiger hat – dies ist der erste von nur zwei solchen Fällen – auf eine eigene Übersetzung verzichtet (bzw. nur das vierte Trinklied noch im selben Stil hinzugefügt) und den bekannten Text Hölderlins publiziert.

Simonides

Der Epigrammatiker der Antike – Epigramm im ursprünglichen Sinn verstanden: eine in Stein geritzte Inschrift, meist also Grabinschriften.

Logischerweise folgen Grabinschriften aus der Zeit des Simonides, mit dem dank Böll auch im 20. Jahrhundert noch bekannten

Ὦ ξεῖν’, ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε
κείμεθα τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι.

Ō xein’, angellein Lakedaimoniois hoti tēde
keimetha tois keinōn rhēmasi peithomenoi.

„Fremder, verkünde den Spartanern, dass wir hier
liegen, von deren Worten überzeugt.“
,

das Rüdiger – und das ist das zweite solche Beispiel – nicht in einer eigenen sondern in der wohl bekanntesten deutschen Übersetzung überhaupt abdruckt, der Schiller’schen von 1795 nämlich:

Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest // Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.

Nach weiteren Epigramme[n] aus der Zeit des Simonides und jüngeren Datums folgt jene Gestalt, die in der Antike wohl die berühmteste war und als Vorbild aller lyrischen Versuche gehandelt wurde. Sogar der Spötter Lukian ist, was ihn betrifft, voller Lob. Wir reden natürlich von

Pindaros.

Der adlige Thebaner nimmt denn auch einen großen Teil der Anthologie ein. Ich verstehe seinen Ruhm in der Antike sehr wohl – formal ist Pindar nachgerade perfekt. Inhaltlich aber bereitet er uns im 21. Jahrhundert doch Mühe. Die meisten seiner Gedichte sind Lobeshymnen auf Olympia-Sieger. Sie haben praktisch immer denselben Aufbau: Auf eine kurze Nennung des Siegers folgt eine lange Schilderung der (meist ja mythischen) Abstammung desselben. Wo der Sieger für einmal nicht aus einer bekannten Familie stammt, wird dieser Teil ersetzt durch eine mythische Schilderung der Herkunft der Sportart, in der er gewonnen hat. Pindar ist bekannt geworden auch dadurch, dass er in seinen mythologischen Nacherzählungen die Götter nie schlecht aussehen ließ. Wo der Mythos weniger brave Taten von ihnen überlieferte, verschwieg er es entweder oder er stellte es als bewusste Verleumdung durch die verlierende Partei hin. Pindar hatte großen Einfluss noch auf Klopstock und Hölderlin – aber im Gegensatz zu vor allem Letzterem finde ich ihn, von meiner Bewunderung für sein formales Können abgesehen, nicht mehr lesenswert.

Es folgen mit Bakchylides und Kallimachos eher weniger bekannte und nennenswerte Autoren, bevor dann der letzte der meiner Meinung nach noch heute lesenswerten Antiken folgt:

Theokrit

Bukolische Poesie geht auch heute noch – das wusste schon Seume, als er auf Theokrits Spuren Sizilien bereiste.

Den lyrischen Schluss macht dann, betitelt als

Orphischer Hymnos,

ein Gedicht, das An den Schlaf heißt. Recht interessant, in dieser Sammlung allerdings wie ein Findling wirkend. Auch hier wollte Rüdiger wohl, dass wir Lesenden uns nach mehr vom Gleichen umschauen.

Den Abschluss des Buchs bilden dann Anmerkungen und Kurzbiographien. Alles in allem eine gelungene Einführung in die antike Lyrik. Im einen oder andern Fall lohnt sich sicher eine weiterführende Recherche.

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