Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan

Bei seinem Erscheinen in der ersten Fassung von 1819 begegnete Goethes West-östlicher Divan im Publikum größtenteils Unverständnis. Zwar war der Vordere Orient – auch und gerade durch die Übersetzungsarbeiten Joseph von Hammer-Purgstalls und (später) Friedrich Rückerts – seit ein paar Jahren schon in Mode gekommen, eine Mode, die weit über die eigentliche Literatur hinausging. Aber das Publikum sah in Goethes Divan nur leeres Wortgeklingel, äußerliche Nachahmung der 1812 unter dem Titel Divan von Hammer-Purgstall übersetzten Gedichte des persischen Dichters Hafis aus dem 14. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Dazu trug sicher bei, dass das lyrische Ich von Goethes Divan sich in vielem als Muslim geriert, islamisches Gedankengut vorbringt. Beide, Hafis‘ wie Goethes lyrisches Ich, stehen dabei in der Nähe der Sufi-Mystik, was sich u.a. daran zeigt, dass beide Wein trinken, vom Wein trunken werden. (Was, da der Islam den Genuss des Weins verbietet, schon bei Hafis allegorisch verstanden wurde – als Trunkenheit durch die Liebe (zu Gott).) Dass Goethe hier quasi als Muslim schreibt, hängt auch mit seinem eigenen „Glauben“ zusammen, der am ehesten mit Spinozas Deus sive Natura umschrieben werden kann – dem Glauben, dass die göttliche Substanz allen Stoff durchdringt, demzufolge alles göttlich ist, und es eine untergeordnete Rolle spielt, ob der Mensch nun Gott in der Natur verehrt, als jüdischen, als christlichen oder als den Gott des Islam. Das konnte schon 1819 das Publikum nicht verstehen.

Doch Goethe wäre nicht Goethe gewesen, hätte er einfach nur Hafis nachgeahmt. Wenn auch vordergründig die Liebe des lyrischen Ich zu Suleika nur eine weitere Kopie des alten Persers ist, so steht doch dahinter genau das, was das Publikum eigentlich von Goethes Lyrik erwartet, aber nicht gefunden hatte: echte Liebe, echte Betroffenheit des Autors selber. Nur wusste man es 1819 nicht, und das Publikum nahm sich nicht die Mühe, den Text genau zu lesen. Denn gerade im Buch Suleika wird nicht nur getändelt. Immer wieder finden wir Anspielungen darauf, dass die Liebe des lyrischen Ich zu Suleika nicht erfüllt werden kann:

Deine Stimme zu vernehmen // War die letzt und erste Lust. // Gestern, ach, war sie die letzte, // Dann verlosch mir Leucht und Feuer, // Jeder Scherz, der mich ergetzte // Wird nun schuldenschwer und teuer.

Das hätte einen aufmerksamen Leser stutzig machen können, aber ich gebe zu: Als rückwärts gewandter Prophet ist es einfach, so etwas zu sagen. Heute, wo wir wissen, dass Goethe zur Zeit seiner Begeisterung für Hafis in Marianne Willener verliebt war – eine Liebe, die wegen des großen Altersunterschiedes ebenso wie wegen der Tatsache, dass Marianne bereits verheiratet war, nicht erfüllt werden konnte, nicht einmal publik werden durfte – heute also lesen wir solche Zeilen anders.

Selbst wenn man nicht ad personam lesen will, stellt Goethes West-östlicher Divan eine Sternstunde der deutschen Lyrik dar. Der Altmeister beherrscht die Klaviatur der deutschen lyrischen Sprache perfekt und zeigt es. Dennoch atmen die Gedichte Leben und sind nicht mechanische Nachahmung orientalischer Rhythmen.


Gelesen in folgender Ausgabe. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Nachdruck der Ausgabe Zürich: Artemis, 1950. (= Artemis-Gedenkausgabe zu Goethes 200. Geburtstag, herausgegeben von Ernst Beutler et al. Band 3)

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