H. Welzer, S. Moller, K. Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“

Wie sind die Deutschen mit ihrer Geschichte umgegangen abseits der offiziellen Geschichtsschreibung – welches Bild der nationalsozialistischen Zeit wurde innerhalb der Familie tradiert bis in die Enkelgeneration? Diesem Antagonismus (denn ein solcher sollte es sein) sind die Autoren in dieser Studie nachgegangen, indem sie knapp 200 Personen (inklusive Kinder- und Enkelgeneration) allein und in der Familiensituation zum Thema Nationalsozialismus interviewten.

Schon die Anzahl macht klar: Es geht hier nicht um eine statistisch relevante Erhebung über den Umgang mit der Vergangenheit. Sondern um eine soziologische Problematik, um die Tradierung von Geschichte innerhalb des Familienverbandes, die sich – siehe oben – von dem staatlich, über den Geschichtsunterricht bzw. Gedenktagen vermittelten beträchtlich unterscheidet. Im ersten Teil wird die sukzessive Geschichtsklitterung durch Kinder und Enkel herausgestellt: Selbst wenn die Großeltern (bzw. jene, die im tausendjährigen Reich aufwuchsen oder schon im Erwachsenenleben standen) von ihrer eigenen Rolle ein zweifelhaftes Bild malten, so verlieren die Aussagen bei Kindern, insbesondere aber bei den Enkeln, deutlich an Schärfe. Das Bild des netten Opas, der netten Oma wird aufrecht erhalten, man überhört Fragwürdiges, deutet um, stilisiert ursprünglich recht zweifelhafte Verhaltensweisen zu „Widerständigem“, heroischen Taten. Das Bild der Familie bzw. der Großeltern muss intakt, muss konsistent bleiben, ein Opa als aktiver und bekennender Nazi passt nicht in die eigenen Erfahrungen oder erfährt entsprechende Änderungen; selbst in einem Fall, als sich das Tagebuch eines Verstorbenen fand, in dem er ungeschönt seine (bis zum Tod ungebrochene) nationalsozialistische Einstellung bekennt, bemüht man sich um ein „aber“, um die Feststellung, dass man derlei nie bemerkt hatte, es auch nicht zu bemerken gewesen wäre.

Ein weiteres Kapitel widmet sich der Art der erinnerten Ereignisse: Die Autoren können nachweisen, dass vieles vom Erzählten eine Wiedergabe später gelesener Werke, gesehener Filme bzw. Dokumentationen ist. Ein Umstand, den fast jeder aus seiner eigenen Geschichte erkennt, wenn er erfahren muss, dass er bloß von anderen Geschildertes als selbst Erlebtes ausgegeben hat (im festen Glauben, dass das Erleben authentisch gewesen sei). Und so ist es umso naheliegender, dass sowohl die Täter/Opfer-Generation derlei in ihre vermeintlich erinnerten Geschichten einbauten (wenn auch in sehr viel geringerem Ausmaß) als auch diejenigen, die diese Erzählungen hörten, sie im Geiste mit jenen Bildern verbanden, die aus Literatur und Film stammten. Letzeres scheint mir allerdings eine Trivialität zu sein, da die später Geborenen ja gar keine andere Möglichkeit haben, als das Erzählte mit dem in der Schule Gelernten, offiziell Dargestellten zu verbinden. Woher sonst sollten die Bilder stammen – jede Phantasie bedient sich bereits vorhandener Eindrücke.

Ein weiterer Abschnitt ist den verschiedenen Topoi gewidmet, die sich mit dieser Zeit verbinden: „Die“ Russen, „die“ Amerikaner, „die“ Juden oder auch „die“ Nazis, wobei dieser Begriff immer zum Unterschied von dem Betreffenden selbst gebraucht wird und wurde: Tatsächlich haben us-amerikanische Untersuchungen unter den Deuschen schon in den Jahren 1944/45 ergeben, dass nur etwa 4 % angaben, vom Nationalsozialismus überzeugt gewesen zu sein. Der Rest beruft sich auf ökonomisch Zwänge (man habe also zur Partei, zu einer Organisation gehen müssen, um etwa den Arbeitsplatz zu erhalten) bzw. auf einen allgemeinen Zwang, dem man sich nur unter größten Opfern hätte entziehen können. Tatsächlich stellt sich dann häufig heraus, dass meist erst die Schlacht um Stalingrad zu einer ersten Distanz zu den Machthaber geführt hat – und auch hier nicht aus ideologischen Gründen, sondern schlicht deshalb, weil der prognostizierte nationalsozialistische Erfolg ausblieb. Ob bei bestimmten Topoi (wie etwa „den“ Russen) tatsächlich die nationalsozialistische Vergangenheit bis in die Gegenwart nachwirkt, will ich aber bezweifeln: Dieser Topos wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg (im Westen) bedient, es war „der“ Russe, der vor der Tür zu stehen pflegte oder dem sich ein österreichischer Wehrdiener (wie der Schreiber dieser Zeilen) demnächst zu erwehren hatte. Russe war eins mit Kommunist und stellte insgesamt eine ständige Bedrohung aller Freiheiten dar, derer man sich erfreute. Und wer trotz dieser paradiesischen Zustände sich unterfing, Kritik zu üben, wurde aufgefordert, doch „in die Sowjetunion zu gehen“, die in eins gesetzt wurde mit einem riesigen Gefängnis.

Ich habe selbst sehr viele Gespräche mit der Täter/Opfer-Generation geführt und kann den im Buch vermittelten Gesamteindruck, dass sich der allergrößte Teil in einer Form vom Nationalsozialismus distanzierte, die aus jedem einen potentiellen Widerstandskämpfer macht, in dieser Form nicht bestätigen. Zum einen scheinen mir die Autoren eine solche Haltung allzu leicht zu unterstellen, zum anderen dürfte manches auch mit der Interviewsituation zu tun haben (etwa das Verwenden von Filmszenen oder Literatur für die eigenen Erzählungen): Man bemüht sich in einer solchen „semi-offiziellen“ Gesprächssituation wohl stärker um elaborierte Sprache, um plausibel-plastische Darstellungen, weshalb man leichter in eine Sprache, in Bilder verfällt, die einen irgendwie authentischen Anstrich haben (und von denen man in diesem Augenblick kaum wissen dürfte, woher sie stammen). Und auch das Bedürfnis nach Abgrenzung vom nationalsozialistischen Gedankengut dürfte in einer Interviewsituation größer sein als ein formloses Gespräch in einem Gasthaus. Neben allen Klischees, mit denen ich ebenfalls häufig konfrontiert wurde (etwa dem „Nichtwissen“ oder der Romantik des Krieges), hörte ich mindestens so oft das Gegenteil: Dass man schon sehr früh von den Lagern gewusst habe, auch von den Massenmorden an Juden oder aber auch, dass man tatsächlich begeistert war (wobei die prekäre wirtschaftliche Situation in den 30er Jahren als „Ausrede“ für ein solches Sympathisieren herhalten musste, eine Ausrede, die aber angesichts der Lage der Personen manchmal nachvollziehbar erscheint*). Selbstredend sind meine Erfahrungen ebensowenig repräsentativ (und ich habe wohl auch mit weniger Menschen über diese Zeit gesprochen), aber mir scheinen die Autoren die spezifische Gesprächssituation zu wenig in Rechnung gestellt zu haben. Trotzdem ist das Buch lesenswert, vor allem die immer wieder eingefügten, kaum redigierten Interviews zeigen das Menschsein in seiner ganzen, oft beunruhigenden Bandbreite.


*) Brechts Dreigroschenoper stellt zurecht fest, dass moralisch nur sein kann, wer auch „zu fressen“ hat. Insofern habe ich für heutige Rechtswähler nicht das geringste Verständnis: Denn hier kann keineswegs mit einer fast aussichtslosen, wirtschaftlichen Lage argumentiert werden, die das eigene als auch das Leben der Angehörigen bedroht.


H. Welzer, S. Moller, K. Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. ebook

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