Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie

Natürlich darf bei meinem Versuch, mir einen kleinen Überblick zu verschaffen über den Teufel in der Literatur- und Kulturgeschichte, der Teufel der deutschen Literatur nicht fehlen: Mephistopheles in Goethes Faust. Dabei handelt es sich um keine ganz leichte Aufgabe, hat doch Goethe praktisch Zeit seines Lebens immer mal wieder, und mal mehr und mal weniger, an diesem Drama gewerkelt – also in etwa ein halbes Jahrhundert lang. Inkonsistenzen nicht nur in der eigentlichen Handlung, sondern auch im Charakter der Protagonisten sind da vorprogrammiert. Das gilt für Faust, aber natürlich auch für Mephisto.

Nur schon deshalb werde ich hier für den Moment nicht das ganze Faust-Drama betrachten, sondern mich mit dem begnügen, was handelsüblich Faust I genannt wird. Selbst in diesem Teil – gerade in diesem Teil – finden wir verschiedene disparate Schichten übereinander gelagert. Da ist der Faust des Sturm und Drang, der, von Weltekel und -überdruss geplagt, zwischen den beiden Extremen schwankt, entweder alles hinzuwerfen, inklusive dem eigenen Leben (wovor ihn dann die Glocken bewahren, die den Ostersonntag einläuten – ausgerechnet!), oder in einem heroischen Aufbäumen seiner Kräfte all sein alchimistisches Wissen in die Waagschale zu werfen und sich in Verbindung zu setzen mit Sphären, die weit jenseits dessen liegen, zu dem Sterbliche eigentlich Zugang haben. Mephisto spielt in diesem Moment noch gar keine Rolle; erst, als Fausts Zugriff auf den Erdgeist scheitert, kommt er ins Spiel. Er tritt auf als der Verführer, der Fausts ursprünglich auf Übernatürliches gerichteten Ehrgeiz auf völlig Natürliches umbiegt: Wein, Weib und Gesang. Mephisto ist hier der Teuflisch-Unheimliche, der, vor dem die Studenten in Auerbachs Keller zittern. Gleichzeitig gleitet aber die eigentliche Tragödie in eine Sturm-und-Drang-Posse ab, Mephisto wird zu einer Art Hanswurst. (Und Faust? Der schaut zu. Sein Spiel wird da nicht gespielt.) Es ist wohl auch dieser Mephisto, den Goethe mit seinem Freund Merck verglichen hat. Aber dieser Sturm-undDrang-Teil nimmt in Faust I schlussendlich eine marginale Rolle ein.

Denn es folgt, viel wichtiger, die Gretchen-Tragödie. Hier, wo Faust im Zentrum steht, und wir die Epoche des Sturm und Drang hinter uns lassen, wo wir wegkommen von den Vorbildern des Volks- und Puppentheaters, von Christopher Marlowe auch, wo dafür der Einfluss Shakespeares stärker wirkt denn je, hier also ist von Mephisto, außer einigen zynischen Bemerkungen, wenig zu spüren. Er ist nun der reine Erfüllungsgehilfe Fausts. In der Klassik spielt der Teufel keine tragende Rolle. Sein Versuch, das Spiel wieder zu beeinflussen, indem er Faust in der Walpurgisnacht auf den Blocksberg schleppt, scheitert gleich doppelt: Einerseits wird Faust von den dort stattfindenden rein weltlichen Vergnügungen abgelenkt durch das Erscheinen des Phantombilds Gretchens; andererseits artet die Walpurgisnacht in eine Richtung aus, die wohl Mephisto selber so nicht vorgesehen hat. Es werden nämlich zum Schluss plötzlich kleine Vierzeiler ‚aufgeführt‘, die – wie die Xenien Goethes und Schillers – Literaturschelte mit persönlichen Angriffen kombinieren. So werden unter anderen Nicolai, Friedrich Stolberg, Lavater oder Fichte durch den Kakao gezogen. Mit Sturm und Drang, und somit dem dem weltlich-zynischen Mephistopheles, hat das alles nichts mehr zu tun, weshalb denn der Teufel hier auch schweigt. Es handelt sich vielmehr um eine Abrechnung des Klassikers Goethe mit seinen vorklassischen Gefährten, die einen anderen literarischen Weg einschlugen. Mephistopheles bleibt bei außen vor.

Allerdings finden wir auch einen ‚klassischen‘ Mephistopheles – nämlich im relativ spät hinzugefügten, aber dann fast an den Anfang des Stücks gesetzten, Prolog im Himmel. Hier macht es sich Goethe so richtig klassisch-bequem und lässt den lieben Gott auftreten als eine Art Fürst und Mephistopheles als eine Art Edelmann, der mal wieder bei seinem Landesherren vorbei schaut. Das Setting als solches ist aus dem alttestamentarischen Buch Hiob genommen. Hier wie dort haben wir einen Teufel, der mehr oder weniger dieselbe Macht zu besitzen scheint, wie sein göttlicher Widerpart, was die jeweils eingegangene Wette um die Seele eines einzigen, winzigen Menschleins realistisch erscheinen lässt. Hiob wie der Prolog im Himmel schrammen beide haarscharf an einem manichäistischen Weltbild vorbei. (In Goethes Fall vielleicht eher an einem pantheistischen.) Dieser Teufel ist wirklich allzu nett und höflich, um noch mit dem Sturm-und-Drang-Teufel der Walpurgisnacht oder dem ebenfalls dem Sturm und Drang zu verdankenden Wesen in Auerbachs Keller verglichen zu werden. Zu nett und höflich, um überhaupt noch Teufel zu sein.

So haben wir eine sehr eigenartige und eigenwillige Gestaltung des Teufels im ersten Teil des Faust vor uns, die Spuren verschiedener Schaffensperioden Goethes vorweist. Doch den Meister störten solche Mischgestalten keineswegs. Und sein Publikum offenbar auch nicht – bis heute.


Gelesen in folgender Ausgabe:

Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Nachdruck der Ausgabe Zürich: Artemis, 1950. (= Artemis-Gedenkausgabe zu Goethes 200. Geburtstag, herausgegeben von Ernst Beutler et al., Band 5)

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