Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens

Nietzsche, der offenbar auch so etwas wie eine Bestenliste der deutschen Literatur führte, schrieb in Menschliches, Allzumenschliches:


Wenn man von Goethes Schriften absieht und namentlich von Goethes Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buch, das es gibt: Was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Literatur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenbergs Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stillings Lebensgeschichte, Adalbert Stifters Nachsommer und Gottfried Kellers Leute von Seldwyla.


Ich bin versucht, Nietzsche Recht zu geben. Nicht nur, was die Leute von Seldwyla betrifft, den Nachsommer oder nun gar Lichtenberg (die alle sowieso): Gerade bei Eckermann trifft Nietzsche den Nagel auf den Kopf. Wir müssen allerdings bei der Formulierung bestes deutsches Buch, das es gibt, den Akzent auf das Wörtchen „deutsch“ legen.

Denn, wenn es ein typisch deutsches1) Buch gibt, so ist es dieses hier. Nicht nur, weil es sich mit einem der objektiv gesehen tatsächlich besten Autoren der Geschichte der deutschen Literatur beschäftigt. Sondern vor allem wegen der Art und Weise, wie es sich mit seinem Thema beschäftigt. Es ist diese auf den ersten Blick bescheiden-schüchtern-zurückhaltende Attitüde, die das Objekt der Verehrung sich anverwandelt, und umgekehrt das schreibende Subjekt sich derart in sein Studienobjekt eindenken lässt, dass es mit ihm verschmilzt, so dass wir zum Schluss nicht Goethe und nicht Eckermann vor uns haben, sondern eine Hybridgestalt. Das gilt auch für die verwendete Sprache, nicht umsonst hält man vielerorts die Gespräche für ein genuines Werk Goethes. Es ist aber mehr als die Sprache, es ist das ganze Denken des Autors, der sich seinen Gegenstand konstruiert, und diese seine Konstruktion hinter einer ostentativ bescheidenen Haltung verbirgt, tiefst innerlich aber stolz darauf ist, und sein Bild nun der Nation1) zur Verehrung präsentiert. Es ist tatsächlich so, wie Eckermann im Vorwort sagt, sein Goethe, den er uns vorlegt.

Fassen wir kurz zusammen: Im Frühsommer des Jahres 1823 kommt Eckermann nach Weimar. Eigentlich will er nur durchreisen, allerdings nicht, ohne seinem Idol Goethe seine kürzlich im Selbstverlag erschienenen Gedichte, allesamt gehalten im Stile des großen Meisters, präsentiert zu haben. Er kann sich auch auf ein vorgängig zugesandtes Manuskript mit dem Titel Beyträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe berufen. Der zu diesem Zeitpunkt gerade mal 30-Jährige stammt aus kleinstbürgerlichen Verhältnissen; sein Vater war Hausierer, er dessen jüngster Sohn. Er hat diese und jene Ausbildung angefangen, aber keine so richtig beendet: unter anderem ein bisschen Kunstmaler und ein bisschen Studium der Rechte. Aber so richtig war es mit nichts geworden. Goethe, damals schon Mitte 70, hatte dem jungen Mann auf seine Beyträge zur Poesie hin ein paar aufmunternde Worte geschickt. Eckermann, der aus der Gegend von Hamburg stammte, hatte beschlossen, in den Süden, an den Rhein zu ziehen, um dort als Maler oder als Schriftsteller aktiv zu werden. Ein Art verkürzte Italienreise2), sozusagen.

Am 10. Juni 1823 ist Eckermann das erste Mal bei Goethe. Dieser hat offenbar sofort gesehen, was es mit dem jungen Mann auf sich hat. Es handelt sich bei Eckermann nämlich um eine sehr spezielle Form einer Inselbegabung. Seine Begabung war aber weder die Malerei noch die Schriftstellerei, wie er selber glaubte – seine Begabung war Goethe. Ohne viel eigenen Willen und eigenes Wissen war er in der Lage, sich seinem Idol Goethe geistig derart anzuschmiegen, dass er nicht nur als Co-Herausgeber der Werkausgabe letzter Hand äußerst geeignet war, sondern auch als eine Art Projektions- und Pin-Wand, an der und an die Goethe seine Ideen solange hin und her werfen konnte, bis sie druckreif waren. Dabei soll Eckermanns Funktion bei dieser Form von schöpferischer Produktion keineswegs verniedlicht werden. Ohne Anspruch auf eigenes Denken zu erheben, war er offenbar immer wieder in der Lage, mit Fragen und Einwürfen den Ball in der Luft zu halten und zurück zu werfen – so, dass Goethe im Prozess seines Denkens nicht gestört und doch voran getrieben wurde. Vor allem ist bei dieser Produktionsweise des alten Herrn von Weimar Eckermanns Rolle in der Fertigstellung des Faust II nicht zu unterschätzen3).

Eckermanns ‚Inselbegabung‘ ist es auch, die verhindert hat, dass er je offiziell in Goethes Dienste getreten ist. Ich denke, er selber hätte es sich nicht vorstellen können, seinem Idol gegen Geld zu dienen. (Dass Goethe bereits über Sekretäre verfügte und seine finanzielle Situation ihm nicht erlaubte, unbeschränkt Personen in Dienst zu nehmen, steht auf einem anderen Blatt. Goethe führte ein großes Haus, empfing oft Gäste, und nicht wenige davon, und dass Sohn, Schwiegertochter und Enkel ebenfalls in seinem Haushalt am Frauenplan lebten, machte trug nicht dazu bei, seine Lebenskosten zu senken, denn sie taten dies auf seine Rechnung. Im Gegenteil: Nach allem, was man weiß, hatte vor allem Ottilie, die Schwiegertochter, ein sehr, sehr lockeres Verhältnis zum Geld ihres Schwiegervaters.)

Die Gespräche bestehen aus drei Büchern. Davon sind die ersten beiden 1836 zusammen erschienen und decken die Jahre 1823-1827 und 1828-1832 respektive ab. Ein dritter Band wurde erst 1848 hinzugefügt. Schopenhauer hätte ihn wohl Parerga und Paralipomena genannt: Es handelt sich nämlich um Nachträge und Ergänzungen, die teils aus Eckermanns eigenem Erleben stammen (so weit wir seinem Gedächtnis trauen wollen – immerhin war Goethe nun seit 16 Jahren tot), teils durfte er Notizen des damaligen Prinzenerziehers am Weimarer Hof verwenden, des aus Genf stammenden Frédéric Sorel (der später in seiner Heimatstadt ein auf eigene Rechnung sehr bekannter Numismatiker wurde).

Inhaltlich unterscheiden sich die drei Bände. Im ersten Band, den frühen Jahren der Bekanntschaft von Goethe und Eckermann, ist es immer wieder Lord Byron, zu dem die Konversation Goethes zurück kehrt – auch noch einige Jahre nach dem Tod des Engländers. An Byron macht Goethe viele seiner dichtungs- oder kunsttheoretischen Aperçus fest. In den späteren Jahren, also im zweiten Band, tritt Byron in den Hintergrund; seine Stelle nimmt nun Walter Scott ein, aber auch über den zweiten Teil des Faust reden die beiden nun regelmäßig. Natürlich führen sie in beiden Bänden auch andere Gespräche: übers Theater, denn Eckermann ist leidenschaftlicher Theatergänger; über Musik und Malerei, naturwissenschaftlich über Goethes Farbenlehre oder die Metamorphose der Pflanzen. Dem letzten Band merkt man aber an, dass er nicht mehr aus demselben Guss stammt. Wo Eckermann Eigenes beiträgt, sind die Beiträge nun überlang. Er lässt Goethe theoretisieren, dozieren. Viel Raum nehmen auch seine, Eckermanns, Träume ein, die er Goethe erzählt haben will. Was soll Goethe dazu mehr sagen als: „Sehr merkwürdig“? Man wird als Leser den Verdacht nicht los, dass unser Autor hier einfach nur Zeilen schinden wollte. Auch ist es erst im dritten Band, wo er sich – nachdem nun Jahre seit Goethes Tod verstrichen sind – traut, diesem gegenüber mit Wissen und Können hervorzutreten, bei welchem er sein Idol übertrifft: Bogenschießen und seine großen Kenntnisse über die einheimische Vogelwelt.

Summa summarum würde ich also Nietzsche Recht geben: Das beste deutsche Buch, das es gibt. Eine Anverwandlung seines Idols, die vordergründig ungekünstelt wirkt, in Tat und Wahrheit aber bei jedem Gespräch eine bewusste Komposition, ein bewusstes Zusammenziehen mehrerer ähnlicher Gespräche in eines beinhalten muss. Eine liebenswürdig-bequeme Vereinnahmung eines Idols, dessen Ecken und Kanten man bewusst-unbewusst abgefeilt hat. (Sogar krank sein darf Goethe erst im dritten Band – in den Bemerkungen, die Soret beigesteuert hat!) Und doch, bei aller poetischer Lizenz, die sich Eckermann herausgenommen hat: Es gab auch diesen Goethe tatsächlich. Zumindest gab es einen Goethe, der seinem Verehrer gegenüber so zu posieren verstand.


1) Mit „deutsch“, bzw. „Nation“, meine ich hier nicht, dem politischen Konstrukt zugehörend, das sich (in verschiedenen Variationen) ‚Deutschland‘ nannte und nennt. Ich meine den Kulturraum, innerhalb dessen Deutsch die Hauptverkehrssprache ist (und die Sprache der Literatur).

2) Er kam bekanntlich doch noch in den Genuss einer Italienreise, als er 1830 August von Goethe nach Italien begleiten durfte. Ob die Zusammenstellung der beiden Reisegenossen so glücklich war, wage ich zu bezweifeln. Eckermann wurde jedenfalls schon bald krank und reiste ohne Goethes Sohn zurück nach Weimar. Der Sohn kam dann bekanntlich gar nicht mehr zurück.

3) Goethe im Gespräch zu Kanzler von Müller: Eckermann versteht am besten literarische Produktionen mir zu extorquieren durch den verständigen Anteil, den er an dem bereits Geleisteten, bereits Begonnenen nimmt. So ist er vorzüglich Ursache, daß ich den Faust fortsetze, daß die zwei ersten Akte des zweiten Teils beinahe fertig sind. ( 8. Juni 1830)

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