Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita

So rasant beginnt selten ein Roman. Nachdem es zu Beginn von Kapitel 1 noch so aussieht, als ob da ein Schriftsteller und der Herausgeber einer literarischen Zeitschrift auf einem Spaziergang im heißen Moskau ein einigermaßen belangloses und langweiliges Wortgeplänkel führen würden, ändert dies rasch, als die beiden sich bei einem Kiosk niederlassen. Das bestellte Wasser gibt es nicht, Bier soll erst am Abend geliefert werden. Es gibt nur Aprikosen-Soda. Warm, denn der Eisschrank des Kiosks funktioniert nicht. Die beiden bestellen nolens volens das Sodawasser, denn sie haben fürchterlichen Durst. Das Resultat ist nicht nur, dass bei beiden der fürchterliche Durst durch einen ebenso fürchterlichen Schluckauf abgelöst wird – aus dem Schaum des Sodawassers und der dicken Moskauer Luft materialisiert sich zunächst eine unbestimmte Angst, später ein seltsamer Gesprächspartner.

Worüber aber haben die beiden gerade diskutiert? Nun, der Schriftsteller hat im Auftrag des Herausgebers einen Artikel für dessen Zeitschrift geschrieben darüber, dass es in Wahrheit – also historisch – keinen Jesus gegeben habe. Der Herausgeber ist nicht zufrieden mit dem Artikel, hat doch der Schriftsteller seiner Meinung nach die Evangelisten so behandelt, wie wenn sie tatsächlich Geschichte geschrieben hätten. Hier ist der Punkt, an dem sich der Fremde einklinkt und schon bald erzählt er die wirklich wahre Geschichte, wie Jesus von Nazaret von Pontius Pilatus verhört worden ist. Diese Geschichte nimmt Kapitel 2 ein. Es ist dem Leser rascher klar als den Protagonisten des Romans, dass wir mit dem seltsam gekleideten Fremden, wenn nicht den Teufel persönlich, so doch einen seiner Handlanger vor uns haben. Und damit öffnet sich schon zu Beginn des Romans die Büchse der Pandora: Was ist Wahrheit? Ist es die in der UdSSR offizielle, atheistische Sicht, die den Evangelien jeden historischen Inhalt abspricht? Sind es doch die Evangelien? (Aber in der Erzählung des Teufels spricht Jesus vor Pilatus dem ebenfalls herumschleichenden Matthäus ab, überhaupt irgendeines der Ereignisse in seinem, Jesu, Leben korrekt dargestellt zu haben. Der Matthäus in dieser Erzählung neigt zu Übertreibungen und Erfindungen.) Ist es schlussendlich doch die Geschichte, wie sie der Teufel erzählt? (Aber der Teufel lügt notorisch.) Die Diskussion bricht ab, denn der Herausgeber drängt auf ein rasches Ende, muss er doch zurück in die Stadt zu einer Sitzung. Der Teufel weissagt ihm, dass die Sitzung nicht stattfinden werde und sieht auch den Kopf des Herausgebers über die Straße rollen. Der wahr-sagende(!) Teufel behält Recht: Am Ende von Kapitel 3 – noch sind keine 50 Seiten des Romans vorbei – kommt der Herausgeber unter die Straßenbahn, die ihm sauber den Kopf abtrennt. Noch rasanter kann man einen Roman kaum beginnen.

Bulgakows Der Meister und Margarita ist vordergründig eine Satire auf das Leben im frühen Stalinismus. 1928 begann Bulgakow den Roman; damals konnte er noch hoffen, sein Werk veröffentlichen zu dürfen. Doch schon rasch zog Stalin die Zensur-Schrauben an, und Bulgakow produzierte wie sein Titelheld für die Schublade. Das gilt auch für diesen Roman. Wenn man ihn nun allerdings nur als Satire auf des Leben in der UdSSR liest, verkürzt man Bulgakows Perspektive. In diesem Roman ist mehr, viel mehr. Wir finden zum Beispiel auch eine Spiegelung von Goethes Faust – eine Spiegelung, die manchmal die Form einer Parodie annimmt. Nicht nur, dass auf dem Vorsatzblatt ein Auszug aus der Studierzimmer-Szene steht mit Fausts berühmter Frage und Mephistos ebenso berühmter Antwort:

FAUST. […] Nun gut, wer bist du denn? MEPHISTOPHELES. Ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Wir finden auch weitere offensichtliche Bezüge auf Goethes Faust. Die Margarita im Titel ist natürlich eine Anspielung auf Goethes Gretchen. Sie kommt, wie diese, erst spät im Verlauf der Geschichte zum Einsatz. Beim Höllenball, dessen Ball-Königin sie darstellt, werden immer wieder Utensilien ausgebreitet, die mit Abbildungen von Pudeln verziert sind. Dass sie beim Höllenball überhaupt als Ball-Königin firmiert, ist dann frechste Parodie Bulgakows. Goethes Gretchen kann Faust auf Grund ihrer Reinheit durch ihre Fürbitte bei der Jungfrau Maria erlösen. Margarita erlöst den namenlosen Meister dadurch, dass sie sich dem Teufel als Hexe und als Ball-Königin zur Verfügung stellt, was ihr das Recht auf eine Fürbitte bei ihm gibt. (Dass sie überhaupt zum Zuge kommt, liegt wiederum daran, dass a) der Teufel – warum auch immer – im Moment gerade in Moskau ist und b) die Ball-Königin unbedingt „Margarita“ heißen muss. Warum letzteres, wird nicht erklärt, aber die Anspielung auf Goethes Faust ist wohl mehr als augenfällig.) Dadurch, dass er Margarita zur Hexe macht, erfüllt Satan – wie sich herausstellt – seine Aufgabe im Plan einer höheren Macht. So wird wahr, was seinerseits Goethes Mephistopheles vorher sagte.

Das Spiel mit der Wahrheit wird im Verlauf des Romans zusehends verwickelter. Die Geschichte des Verhörs von Jesus durch Pontius Pilatus, die der Teufel zu Beginn erzählt hat, ist, stellt sich heraus, Teil eines Romans, den der Meister geschrieben hat. Dieser Meister tritt seinerseits erst in Kapitel 13 auf, nachdem man seinen Schatten schon in Kapitel 11 gesehen hat. Es stellt sich heraus, dass auch er Schriftsteller ist. Oder, besser gesagt: war. Wir stoßen auf ihn in einem Irrenhaus außerhalb Moskaus, wo unterdessen auch der Poet eingeliefert wurde, der den Tod des Herausgebers miterleben musste. Der Meister ist hier gelandet nicht auf Grund irgendwelcher teuflischer Machenschaften – jedenfalls nicht auf Grund von Machenschaften des Teufels in Person. Ihn hat der Verriss seines Romans über Pontius Pilatus durch einen namhaften Kritiker aus der Bahn geworfen, indem der Verriss auch das Ende seiner Karriere als Autor bedeutete. (Solche einflussreichen Kritiker gab und gibt es auch in Wirklichkeit. Die Gruppe 47 oder Reich-Ranicki seien hier nur beispielhaft genannt. Es muss sie auch in der UdSSR gegeben haben.)

Zum Schluss wird Bulgakow mystisch. Realität (also: die Realität der Figuren) und Fiktion (also: der Roman des namenlosen Meisters) verschmelzen. Der eigentlich eine fiktive Figur im Roman des Meisters vorstellende Matthäus wird (im Rahmen des Romans) real und tritt als Bote Gottes bei Satan auf. Der Meister wiederum erlöst seine eigene Fiktion Pontius Pilatus und wird danach seinerseits von Margarita durch ihre Fürbitte beim Teufel erlöst. Der folgende Epilog zeigt die Moskauer Behörden beim Versuch, all die Streiche, die in der Stadt vom Teufel und seinem Hofstaat verübt worden sind, logisch-materialistisch zu erklären. Man kann diesen Epilog als Plädoyer Bulgakows lesen gegen den offiziell verordneten Atheismus, denn die als völlig unfähig geschilderten Untersuchungsorgane kommen unisono und stereotyp zum Schluss, dass all die seltsamen Ereignisse, die sie aufzuklären hätten, ganz einfach auf – Massenhypnose zurückzuführen seien.

Den Erlösten kann die mangelnde Aufklärung egal sein. Dem Teufel ist sie es sowieso.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert