Pater historiae nannte ihn Cicero (in De legibus), den Vater der Geschichte. Das zeigt, dass sich noch 300 Jahre nachdem Herodot seine Historien geschrieben hatte, eine etwas andere Kultur als die antike griechische, nämlich die antike römische, durchaus dessen bewusst war, dass mit diesen neun Büchern etwas Neues in der Literaturgeschichte aufgetaucht ist: das Genre der Geschichtsschreibung. Denn mehr als ein neues literarisches Genre war es zu Beginn nicht. Dass sich daraus im Laufe der Jahrhunderte eine wissenschaftlich-universitäre Disziplin entwickeln würde, kann man dem alten Griechen nicht anlasten.
Eher vielleicht die schon früh, praktisch noch zu seinen Lebzeiten, einsetzende Diskussion um den Wahrheitsgehalt seiner Geschichten. Dieser wurde schon bald angezweifelt – so z.B. die Stellen, in denen Herodot behauptet, dieses oder jenes Denkmal bzw. diesen oder jenen Brauch noch persönlich gesehen zu haben. Die Frage, die sich schon bald stellte: Ist Herodot tatsächlich so viel im erweiterten griechischen Raum herumgereist, oder war er eher der Typ ‚Couch Potatoe‘, der fremdes Material zusammentrug und als eigenes ausgab? (Dahinter verschwindet ein wenig die Frage, wie weit Herodot im eigentlich historischen Material die Wahrheit erzählt: Wie viele Völker – und welche – haben tatsächlich auf der griechischen bzw. der persischen Seite an diesem Krieg teilgenommen, der 480 v.u.Z. vom persischen Großkönig Xerxes I. vom Zaun gerissen wurde? Wie viele Menschen / Soldaten auch?)
Herodot beginnt seine Erzählung allerdings lange vor Xerxes‘ Invasion. Er konstruiert so etwas wie einen ‚ewigen‘ Antagonismus zwischen Ost und West, zwischen Persern und Griechen. Im ersten Buch führt er diese Rivalität zurück auf die Entführung Helenas und den trojanischen Krieg – indem er die Einwohner Trojas gleich setzt mit den aus dem vorderasiatischen Raum nach Europa drängenden Persern und Medern. So macht er aus einem eigentlich zeitlich begrenzten Konflikt etwas Jahrhunderte Überdauerndes: einen Konflikt zwischen Europa und Asien. (Wir stehen diesbezüglich noch heute mehr oder weniger am selben Punkt wie der alte Grieche im 5. Jahrhundert v.u.Z.!) Über weite Teile schildert Herodot im Folgenden die Geschichte des Persischen Reichs – mit einer Exkursion in die Geschichte Ägyptens. Die griechische Geschichte behandelt er zweitrangig; offenbar geht er davon aus, dass sein Publikum diese kennt – besser kennt auf jeden Fall als die persische.
Was Herodots Geschichte der Perserkriege trennt von Homers Schilderung des Trojanischen Kriegs, des Zornes des Achilles, ist die Tatsache, dass Herodot konsequent auf einen Rückgriff auf persönlichen Einsatz der Götter verzichtet. Er kennt nur eine regelmäßige Befragung der Orakel durch beide Kriegsparteien. Allerdings legt er die Akzente seiner Erzählung so, dass ein Scheitern einer Kriegspartei oder eines Individuums als das Resultat einer Hybris gegenüber den Göttern erscheint. Durch den Verzicht auf einen direkten Eingriff der Götter begründet Herodot einen neuen Realismus, noch verstärkt dadurch, dass er immer wieder bekräftigt, dieses oder jenes mit eigenen Augen gesehen zu haben. (Es ist dies das Prinzip der Autopsie, das nach ihm dann von Aristoteles endgültig in die Wissenschaft eingeführt wurde.) Wo er nicht selber dabei gewesen ist (sein kann), schildert er oft mehrere Versionen eines Geschehens und wägt ab, welche Version als die wahrscheinlichste gelten kann. Es ist diese Errungenschaft, die aus Herodots Werk einen Meilenstein nicht nur in der Literaturgeschichte macht, sondern auch in der Wissenschaftsgeschichte. Dabei spielt es im Nachhinein keine Rolle mehr, ob der Autor dabei eventuell geflunkert hat, und – wenn ja – bei welchen Teilen seines Werks.
Interessant fand ich den Umstand, wie Herodot sich immer und immer wieder Abschweifungen erlaubt. Sei es, dass er die Vorgeschichte eines neu in sein Gesichtsfeld tretenden Menschen oder Volkes in einem Einschub erzählt, oder dass er Land und Leute in extenso schildert. Er liefert nicht nur historische Informationen, sondern auch geografische oder ethnologische. Ja, selbst zoologische Aufklärung liefert er, nämlich dort, wo die Tierwelt (relativ zur derjenigen der griechischen Halbinsel und der griechischen Inseln) so exotisch war, dass er sicher sein konnte, das Interesse des Publikums daran zu gewinnen. So sind es vor allem die Tiere Ägyptens, die er vorstellt. (Viele solcher Informationen haben Jahrtausende überdauert. Noch Plinius muss sich auf Herodot gestützt haben – oder zumindest auf einen, der diese Passagen aus den Historien abgeschrieben hatte –, als er seinerseits das ägyptische Krokodil vorstellte. Und Plinius seinerseits galt bis ins 18. Jahrhundert als Maßstab naturwissenschaftlicher Korrektheit.)
Der ‚Vater der Geschichte‘ kann alles in allem auch nach rund anderthalb Jahrtausenden noch interessieren.