Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum

Stirner ist nur ein Beispiel für das Versagen einer ganzen Generation der Intelligentsia.

Mit diesem Satz beendet Ahlrich Meyer, der Herausgeber meiner Ausgabe des Einzigen (Reclam Universalbibliothek Nr. 3057 aus dem Jahr 1981), sein Nachwort – oder genauer: einen Anhang zum Nachwort von 1970/71, das er für die Neuauflage von 1981 noch zusätzlich verfasst hatte. Wenn ich das richtig sehe, wird die Reclam-Ausgabe des Einzigen noch immer mit diesem Nachwort – und damit wohl auch mit diesem Anhang – vertrieben. (Was bei Gelegenheit zu korrigieren wäre…)

Es ist mehr oder weniger stillschweigender Usus, dass Herausgeberschaften von Personen übernommen werden, die dem herausgegebenen Werk oder dessen AutorIn einigermaßen wohlwollend gegenüber stehen. Das kann manchmal subtile oder auch ganz offene Formen von Heldenverehrung annehmen, vor allem, wenn es sich um philosophische oder andere Partei-Werke handelt, und wirkt dann irgendwie lächerlich. Wohl als Nachbeben der 1968er Jahre hat Reclam offenbar beschlossen, für Stirners Werk ein marxistisches Nachwort zu kommissionieren. Für eine Parteischrift den Vertreter einer gegnerischen Ideologie als Herausgeber zu beauftragen, ist allerdings keine gute Idee. Hier jedenfalls war sie es nicht.

Nun kann ein bisschen Kritik nicht schaden, und im Zweifelsfall ist mir ein kritisches Nachwort lieber als ein schmeichelndes. Doch Meyer verfehlt in seinem Nachwort Ziel und Pflicht eines Herausgebers. Bei ihm mündet die Kritik einfach in ein anderes Partei-Werk. Meyer zitiert laufend MEW, was auf einen hartgesottenen Marxisten hinweist, der der Meinung ist, dass jedem Leser, jeder Leserin, klar ist, dass es sich um die Marx-Engels-Werke handelt, die zwischen 1956 und 2018 (zunächst in der DDR) erschienen sind. Er ist offenbar der Ansicht, Zitate aus den Werken von Marx und Engels seien das geeignete Mittel für eine Auseinandersetzung mit Max Stirner. Tatsächlich aber setzt er sich in seiner Anhäufung von Zitaten vor allem mit – Marx und Engels auseinander. Er gibt es 1981 auch zu, wenn er sagt, er sei 1970

[…] allzu sehr der Tatsache verpflichtet [gewesen], daß »Der Einzige und sein Eigentum« für Marx und Engels mehr als nur ein Anlaß zur Ausarbeitung der materialistischen Geschichtsauffassung gewesen ist.

Aber mit einer materialistischen Geschichtsauffassung, mit Marx und Engels, wird man Stirner nicht fassen können. Denn Stirner, um es so zu sagen, spielt ein anderes Spiel als Marx oder Engels.

Wohl stammt auch er aus dem Milieu der Junghegelianer, hat sogar ganz zu Beginn in Berlin bei Hegel (und bei Schleiermacher) studiert. Doch Marx und Engels sind, wie Hegel selber, nur ganz nebenbei Ziele seiner Auseinandersetzung. Die Initialzündung für den Einzigen und sein Eigentum war Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums, und Stirner sah zwar wie Feuerbauch (und Bruno Bauer) in der Ideologie des Christentums die Gefährdung des Einzigen. Aber er glaubte, anders eben als Feuerbach und Bauer, nicht an die Möglichkeit, diese Gefährdung zu tilgen, indem Atheismus gepredigt wurde, weil auch ein Atheist (oder Sozialist oder Kommunist oder Anarchist, quant à ça) letztlich immer noch ein Ideal anbete; ein Idol, das sich immer noch – ob nun geistig oder physisch – in einem Raum außerhalb des Betroffenen befindet und deshalb nicht seiner Macht unterworfen ist und ihn von außen lenke. Genau von diesem Glauben an ein Ideal, an Gesetze, müsse sich der Einzige frei machen. Stirner nennt diesen Glauben auch Gewissen. Ich habe dieses Gewissen schon verglichen gefunden mit Sigmund Freuds Über-Ich – und dieser Vergleich erscheint mir bedeutend sinnvoller, als jeder Versuch, Stirners letzten Endes doch recht vage Gesellschaftstheorie in den Kategorien einer marxistischen Denke kritisieren zu wollen.

Stirner schwebt ein Egoist vor, der sich nur noch um sich selber kümmert, bzw., wenn er sich um andere kümmert, dann deshalb, weil es ihm gut tut. Stirners Gedanken nachzuvollziehen fällt zugegebenermaßen schwer. Das Inhaltsverzeichnis von Der Einzige und sein Eigentum suggeriert zwar einen geordneten Ablauf seines Gedankengangs. Er beginnt mit einer Abteilung Mensch und beschäftigt sich zunächst mit den Menschen der alten Zeit, sprich: mit den alten Griechen, zunächst ihrer ‚Theologie‘, dann der daran einsetzenden Kritik durch die Sophisten, die Stirner als die Aufklärer der Antike auffasst. Sokrates allerdings wird diese Aufklärung wieder ins Ethische umbiegen und wirkungslos machen. So weit ist Stirner noch einigermassen klar. Dann wird es schwierig, ihm zu folgen, weil er nun einen Geist verfolgt. Nicht einen, den er selber erfunden hätte, sondern im Gegenteil einen, der erfunden wurde, um dem Einzigen sein Eigentum vorenthalten zu können. Hier nun beginnt das Problem schwammig zu werden, denn es ist nicht ganz klar, wer nun vorenthält und wem vorenthalten wird. Es kommt wieder eine Aufklärung, dann der Liberalismus, als säkularisierte Form des Humanismus. Die zweite Abteilung, Ich, versucht, den Weg des Ich (das, wie Stirner explizit festhält, mit Fichtes Ich nichts zu tun hat) zum Einzigen aufzuzeigen, zum Einzigen, der alles als sein Eigentum hat. Hier ist es vor lauter Hypostasierungen nicht mehr möglich, Stirner wirklich zu folgen. Was sich erahnen lässt, ist ein lauter Aufschrei gegen die Dominanz des Geistes über das Ich, die dem Ich seine ‚Erfüllung‘ vorenthält. Warum, wieso, woher – wie gesagt: einigermaßen schwierig zu beantworten.

Stirners Wirkung in der Philosophie ist gleich Null, von jeher gleich Null gewesen, was nicht nur am Extremismus seiner Gedanken liegt, sondern ebenso an der recht undisziplinierten Art und Weise, wie er sie darstellt. So wird er immer mal wieder gelesen; aber einen ‚Stirnerismus‘ könnte man nicht aus seinem Buch entwickeln. Auch in der Politik war er wirkungslos, wollte er wohl gar nicht wirken. Sein Werk – Der Einzige und sein Eigentum stellt unterm Strich Stirners ganzes Werk dar – sein Werk also ist zwar im Grunde seines Wesens anarchistisch. So anarchistisch, dass selbst der Anarchismus, der ja auch noch seine Ideale hat, verneint wird. Genau genommen haben wir eine Form des Nihilismus vor uns, eines Nihilismus, der sich zum Schluss in sein eigenes Gärtchen zurückzieht wie Candide.

PS. Beiläufig: Stirner zitiert häufig aus sozialistischen, kommunistischen oder anarchistischen Schriften (v.a. Bruno Bauers), die zu Beginn der 1840er erschienen sind. Allesamt in der Schweiz, in Zürich und in Winterthur, die damals Hochburgen der exilierten Sozialisten, Kommunisten oder Anarchisten waren.

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