Qiu Miaojin: Aufzeichnungen eines Krokodils

Taipeh, im Jahr 1987: Im Zuge der allgemeinen Liberalisierung der Verhältnisse auf Taiwan wurde ein seit 1949 dauernder Ausnahmezustand beendet. 1987 ist das Jahr, in dessen Herbst die zunächst namenlose Protagonistin und Ich-Erzählerin vom College in eine Elite-Universität Taipehs übertritt. Vier Jahre lang, bis zu ihrem Bachelor-Diplom, werden wir ihr durch ihr Leben folgen. Der Roman besteht aus acht so genannten Notizbüchern, in denen die junge Frau tagebuchartig die wichtigsten Ereignisse in ihrem Leben notiert – ein Notizbuch pro Semester.

Die 1987 einsetzende Liberalisierung betraf nicht nur die eigentliche Politik des Landes. Auch in Bezug auf die herrschende Einstellung zur Sexualität tat sich – zumindest in der Hauptstadt Taipeh, zumindest in den Kreisen der Intellektuellen der Elite-Universitäten – einiges. Vorher unterdrückt, sprossen nun – wie Pilze nach einem warmen Sommerregen – an allen Ecken und Enden Clubs und Vereinigungen junger Homosexueller. Man traute sich endlich, zu seiner Veranlagung zu stehen, und es bildete sich eine in höchstem Maß moussierende homosexuelle Subkultur.

Schon auf den ersten paar Seiten macht die Protagonistin klar, dass sie Frauen liebt, Frauen sexuell anziehend findet. Im Lauf der Story wird sie mit dem Übernamen Lazi bedacht werden, was eine chinesische Verballhornung des Wortes „Lesbe“ ist. (Der Übername wird ihr von einer anderen jungen, homosexuellen Frau gegeben, mit der sie allerdings in keiner Beziehung ist; und er bleibt an ihr hängen.)

Äußerlich gesehen, geschieht sehr wenig in den rund 300 Seiten dieses Romans. Qiu hat sich erfreulicherweise darauf beschränkt, ein Psychogramm ihrer Protagonistin abzuliefern und auf jedwede Form von ‚Action‘ verzichtet. Selbst über Lazis Studium erfahren wir fast gar nichts, einzig eine Veranstaltung über Sigmund Freund wird erwähnt. Das Leben an der Universität ist nur insofern präsent, als es ihr die Möglichkeit bietet, andere Leute kennen zu lernen – meist Frauen, unabhängig vom Geschlecht fast immer Homosexuelle. Lazi ist von ihren Beziehungen besessen – vor allem der einen zu ihrer großen Liebe, der zwei Jahre älteren Shiuling. Ihr Beziehungsmuster ist dabei keineswegs „gesund“, im Gegenteil. Immer und immer wieder schlägt sie ihre Geliebten vor den Kopf, beendet eine Beziehung für immer, nur um einen Monat später wieder vor der Tür dieser Geliebten zu stehen und darum zu betteln, dass das Verhältnis wieder aufgenommen werde. Sie gibt sich Schuld, sie gibt der Geliebten Schuld – und verletzt beide immer und immer wieder. Ich habe das Buch schon als Entwicklungsroman bezeichnet gefunden. Das ist – man entschuldige den harten Ausdruck – Unsinn. In den vier Jahren, in denen wir Lazi folgen, entwickelt sich ihr Beziehungsmuster keineswegs. Außer, man wolle ihr den plötzlichen Entschluss am Ende der vier Jahre als „Entwicklung“ anrechnen, der dahin geht, dass sie nun schreiben will, ihre Einsamkeit in Literatur umwandeln – ein Entschluss, den uns die Autorin im Vorgriff auf die ganze Geschichte Lazis gleich zu Beginn des 1. Notizbuchs mitteilt:

Ich verschloss Tür und Fenster, zog den Telefonstecker und setzte mich an den Tisch. So geht nämlich Schriftstellerei.

Diese kühle, fast schnoddrige Sprache ist typisch für Lazi. Gegen aussen selbstsicher und bestimmt, selbstsicher bis zur Altklugheit; in Tat und Wahrheit unsicher, weil einsam, aber diese Einsamkeit noch verstärkend. Qius Sprache macht, dass der Roman zu keinem Zeitpunkt in Larmoyanz abgleitet. Hinzu kommt ein weiterer Trick (oder Tick) der Notizbuch-Schreiberin Lazi: Bezeichnenderweise für ihre Geistesverfassung rekurriert sie neben den großen Pessimisten Schopenhauer und Kierkegaard vor allem auf die französischen Existenzialisten, die sie immer wieder erwähnt. Sartre am wenigsten, Camus (der offenbar ihren Sinn für Dramatik besser anspricht als Sartre) schon mehr, am meisten aber Jean Genet (‚offiziell‘ wegen seiner ‚Laufbahn‘ als Underdog, der immer und immer wieder im Gefängnis einsaß – in Tat und Wahrheit wohl eher wegen der homosexuellen Motive in dessen Werk, die sadomasochistischen nicht zu vergessen, denn genau diese verborgene sadomasochistische Ader ist konstituierend für Lazi). Wenn es nicht die (französische) Literatur ist, hinter der sich Lazi versteckt, dann sind es (französische) Filme der Nouvelle Vague. Oft ist es der Protagonistin nur so möglich, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben.

Noch ein Wort zu den Krokodilen. Irgendwann erscheinen im Roman Unterkapitel, die vom Auftauchen solcher Tiere in Taiwan handeln, von der Reaktion der Gesellschaft auf diese Tiere. Soll man sie schützen? Oder soll man sie abschießen? Für beides gibt es Parteien. Die Krokodile verfügen über Menschenanzüge, um in der Gesellschaft nicht aufzufallen, Überzüge, die sie aussehen lassen, wie gewöhnliche Menschen. Sie sind Einzelgänger. Ein einziges Mal verirrt sich unser Krokodil auf eine Party, an der lauter andere Krokodile teilnehmen. Vor Angst verkriecht es sich unter den Tisch. (Während es ansonsten, gegenüber Menschen, die grosse und freche Klappe führt – aus reinem Selbstschutz, wie man als Leser zu vermuten gezwungen ist.)

Nun lehrt uns die Zoologie, dass es auf Taiwan keine einheimischen Krokodile gibt. Wir haben also keine verwandelten Dämonen vor uns, wie es z.B. die chinesische Mythologie bei den Füchsen kennt. Die Krokodile sind absolute Fremde (ja, die Anspielung auf Camus ist gewollt!) in Taipeh. So fremd, wie die queeren (so das Nachwort zur deutschen Übersetzung) Menschen in der traditionellen chinesischen Gesellschaft. (Oder – denn im Nachwort der deutschen Ausgabe wird so etwas angedeutet – in der christlichen Diaspora auf Taiwan, aus der Lazi stammen könnte.) Dass Qiu ein Tier gewählt hat, das im Allgemeinen als bösartig und unberechenbar gilt, ist sicher kein Zufall. Auch Lazi ist für ihre Umgebung unberechenbar; ihr verletzendes Verhalten ihren Geliebten gegenüber hat so einiges Krokodilartiges an sich.

Fazit: Mit diesem Roman ist der jungen Autorin Qiu Miaojin ein Coup geglückt. Unter einer kühlen sprachlichen Oberfläche brodeln die Gefühle der Ich-Erzählerin. So etwas beim Erstlingswerk hinzukriegen, ist eine Seltenheit. Nie larmoyant, oft ironisch und dennoch im Grunde genommen tragisch – so steht mit Lazi eine Symbolfigur der LGBT-Community vor uns. Qiu war beim Erscheinen des Romans 1994 gerade mal 25 Jahre alt. Offenbar ist vieles von Qiu in den Roman, in Lazi, eingeflossen – so, wie vieles von Goethe in den Werther geflossen ist. Aber wenn Goethe sich mit seinem Roman seine suizidalen Tendenzen vom Leibe schreiben konnte, wie er sagt, ist das Qiu nicht gelungen: Ein Jahr nach der Veröffentlichung der Aufzeichnungen eines Krokodils hat sie sich in Paris (wo sie unterdessen studierte) mit einem Messer umgebracht. Jedenfalls ist das die Version ihres Todes, die sich durchgesetzt hat.


Qiu Miaojin: Aufzeichnungen eines Krokodils. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Mit einem Nachwort von Hannah Lühmann. [Und, nach dem Nachwort, einer Nachreichung von Ulrike Helmer: Keine Krokodilstränen.] Roßdorf bei Darmstadt: Ulrike Helmer Verlag, 2020.

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