Schon der Titel lässt Schlimmstes vermuten. Und es kommt sogar noch schlimmer als erwartet. Das Büchlein hebt an mit Im Anfang war das Wort. Um sogleich weiterzufahren mit Doch das Wort war eine Lüge. Eine Parodie auf das ‚Buch der Bücher‘. Um genau zu sein: eine Parodie auch darauf.
Cavelty erzählt uns die Geschichte des Innozenz. Innozenz ist ein sehr frommer, ja heiliger Mann. Die Geschichten über die Wunder, die er vollbracht haben soll, und die der Erzähler genüsslich aufzählt, sind Legion. (Innozenz allerdings weist sie alle demütig zurück – Übertreibungen, Übertreibungen.) Nun wird er eines Tages vor den Papst gerufen. Seine Frömmigkeit und Heiligkeit haben ihn für eine schwierige Mission empfohlen:
Es geht [so der Papst zu Innozenz während dessen Privataudienz] um einen Fall von aller schlimmster Ketzerei. Sie trägt sich zu im Dorfe Schwamendingen, zugehörig dem Bistum Konstanz. Es soll dort ein Sektiererbund sein Unwesen treiben, der in seiner Schlechtigkeit alles übertrifft, was mir je an Schilderung von Schlechtigkeit zugetragen wurde. Im Zentrum seiner blasphemischen Rituale soll nichts anderes als der Schädel des ersten Menschen stehen. […] Du musst nach Schwamendingen, die Gotteslästerer identifizieren und vernichten und den Schädel hierherbringen.
Innozenz kriegt noch das Inquisitorenköfferchen mit (dessen Inhalt der Autor im nächsten Kapitel minuziös auflistet), das ihm aber eigentlich nur als Tarnung dienen soll, indem es als Instrumentenköfferchen eines Käferforschers ausgegeben wird. Innozenz marschiert los, von Rom Richtung Schwammendingen. Das heisst, „marschieren“ ist das falsche Wort: Er scheint eher zu levitieren; jedenfalls ermüdet ihn der Fußmarsch nicht, er erfrischt ihn offenbar sogar.
Wer das berichtet, und das ganze Buch hindurch als Ich-Erzähler fungiert, ist Innozenz‘ Freund und Weggefährte. Bei diesem Weggefährten handelt es sich aber nicht um einen Menschen, oder ein Tier, nein, Innozenz reist mit einem Buch in der Brusttasche. Einem speziellen Buch allerdings. Es ist nämlich ein Buch, das nicht gelesen wird, sondern das im Leser liest, dessen Gedanken liest. Die Seiten dieses Buchs sind weiß. Und während das Buch in uns liest, erzählt es uns die Geschichte jenes Kopfs, der es am meisten beschäftigte – eben jenes frommen und heiligen Innozenz de Innozentis.
Ich werde nicht versuchen, den Inhalt des Romans weiter nachzuerzählen. Es ist eine Geschichte von Wahrheit und Lüge, Büchern und Realität. Nur so viel will ich sagen: Innozenz‘ Versuche, die Sektierer in Schwamendingen ausfindig zu machen, enden darin, dass er, statt das Böse einzudämmen oder gar zu besiegen, dieses Böse erst überhaupt frei setzt – ja, die eigentliche Apokalypse in Gang bringt. Eine Apokalypse, die ganz anders aussieht, als die von Johannes in seiner Offenbarung geschilderte. Und die im letzten Moment scheitert, weil ein Narr, der ebenfalls auf dem Drachen der Apokalypse nach Rom reitet, diesen in den Nacken beißt.
Er laberte noch etwas vom »finalen Sieg des Übermenschen«, als der Drache und seine antikosmischen Reiter ins Meer knallten und gurgelnd ersoffen.
Ja, das Buch ist schlimm. Es parodiert nicht nur das Buch der Bücher, sondern auch mittelalterliche Legendenbücher (wie z.B. die Legenda aurea) und macht sich ganz allgemein lustig über Jahrhunderte von Büchern. Es persifliert jene Bücher gewisser Philosophen, die nur aus Aufzählungen bestehen; jene Bücher, in denen Sprachspielereien des Autors überborden; generell jene Bücher, die mit entlegenem Wissen protzen. Und es ist eine Liebeserklärung an eben solche Bücher. Einige lässt der Autor sogar auftreten. So erscheint Umberto Ecos Der Name der Rose, selber ein intertextuelles Buch, verhunzt als schamlose Büchin, die unser schneeweißes und unschuldiges Buch verführen will (so, wie der unschuldige Adson von Melk in eben diesem Buch von einem Bauernmädchen verführt wird); bei der Aufzählung der grimoires (das ist: der Zauberbücher des Mittelalters) wird auch das Necronomicon Lovecrafts eingeschmuggelt, usw. Zum Schluss hat das ehemals weiße Buch schwarze Seiten, wie auch Laurence Sterne mit der Färbung seiner Buchseiten spielte. Bücher stehen im Zentrum der Geschichte – nicht nur, weil ein Buch der Erzähler ist.
Nur eines beschäftigt mich: Mir ist, ehrlich gesagt, nicht klar geworden, warum die Geschichte ausgerechnet in Schwamendingen spielt. Das Dorf gibt es (bzw. gab es: es wurde 1934 von der Stadt Zürich eingemeindet). Heute bildet es Zürichs Kreis 12 und erfreut sich eines eher zweifelhaften Rufs als „East End“ dieser Stadt. Das Schweizer Fernsehen hat seine Studios im Kreis 12, aber darauf scheint Cavelty nicht anzuspielen. Im Gegensatz zu mir wohnt er allerdings in Schwamendingen; vielleicht sind mir deshalb Insider-Anspielungen entgangen.
Alles in allem eine äußerst erfrischende Lektüre, die jedem Freund etwas ausgefallenerer Literatur über Literatur Freude machen wird.
Gion Mathias Cavelty: Innozenz. Legende. O.O.: lectorbooks, 2020.
Mit bestem Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.