Bettina Stangneth: Lügen Lesen +++ abgebrochen

Bücher abzubrechen fällt mir eigentlich recht schwer. Und Stangneth hat mich mit ihrer Darstellung von Eichmann beeindruckt, eine Darstellung, die Arendts Buch über die „Banalität des Bösen“ Lügen gestraft hat (Eichmann ist es bei diesem Prozess gelungen, sich selbst als eine Art bürokratischen Mörders mit Pflichtbewusstsein darzustellen, wohingegen er – wie Stangneth nachweist – ein überzeugter Nazi war und keineswegs der banale Schreiber). Das hier vorliegende Buch „Lügen Lesen“ ist der zweite Teil (einer als Trilogie angelegten Reihe), der erste Teil nennt sich „Böses Denken“, der letzte „Hässliches Sehen“ – und ich war durchaus gespannt, was sich hinter dem etwas kryptisch anmutenden Titel verbirgt.

Nun kann man über das Lügen oder die Lüge viel schreiben, Geistreiches, Altkluges, man kann umfangreich zitieren aus der philosophischen und belletristischen Literatur (denn welcher Schreiberling erwähnt nicht irgendwo einen Lügner), muss sich dabei aber hüten, aus dieser Fülle an Angeboten das für sich selbst Richtige auszuwählen, damit man sich nicht in Unwägbarem verliert. Genau das gelingt Stangneth nicht, sie will zwar einerseits philosophisch vorgehen, ermangelt andererseits aber der gedanklichen Stringenz und ergeht sich in ermüdenden Ausführungen, die manchmal nicht falsch, öfter undurchdacht und fast immer beliebig erscheinen, stets aber eine Struktur, ein Ziel vermissen lassen. Sie macht sich daher von Beginn an nicht die Mühe, die Lüge wenigstens ansatzweise zu definieren (die Lüge, die nicht das Gegenteil der Wahrheit ist und die in bewusster Täuschungsabsicht ausgesprochen werden muss, um dem landläufigen Begriff der Lüge zu genügen), sondern ergeht sich in essayistisch-aphoristischen Formulierungen (die, wie die Philosophie von Nietzsche bis Wittgenstein beweist, wenig geeignet sind, klare Aussagen zu treffen, vielmehr angehenden und akademischen Philosophen dienen, eine Unmenge Papiers zu verbrauchen und dabei immer unangreifbar zu bleiben). Das alles ist nun noch nicht mal „schlecht“, sondern einfach nur – beliebig.

Seltsam wird es aber dann, wenn man sich – weil es der Schreibfluss so will und man über das Geschriebene nur insofern nachdenkt, als dass es klug klingen möge – zu einer Hypostasierung der Lüge versteigt, sie in die Welt entlässt (was man ja noch darf und kann), dann aber als „Ding in der Welt bezeichnet“ und zu einer eigenen Realität werden lässt. (Ja, das ist wahrscheinlich gar nicht so ganz ernst gemeint, aber Zeichen jener verschwommenen Terminologie, die nichts aussagen, sondern nur originell sein will.) Denn eine Lüge ist nie ein Ding – und wenn sie ein Eigenleben entfaltet, dann immer nur in den Köpfen der Menschen, in demjenigen, der sich täuschen lässt oder auch im Erzeuger dieser Lüge, der da auf einen Vorteil schielt. Da kann dann auch eine verquere ontologische Rechtfertigung nichts ausrichten, wo die „Lüge wie auch das Böse nur als ein Seinsmangel“ vorstellbar seien – und ihre Namen „seien Leerstellen für das, was sein sollte, aber nicht ist, weil wir es versäumt haben“. Das ist nichts als philosophisch verbrämte Effekthascherei – und wenn sich die Autorin darum bemüht hätte, ihren schwammigen Begriff von Lüge ab- und einzugrenzen, dann hätte sie sofort gemerkt, dass diese Lüge keineswegs mit dem Bösen gleichzusetzen und gleichsam ontologisch defizitär ist, dass die Lüge dem Guten dienen und das Böse mit der Wahrheit in Verbindung stehen kann. Oder aber, dass man, wie Brandstetter mal geschrieben hat, „die Wahrheit lügen kann“. Es stellt sich nämlich immer und zuvörderst die Frage, wozu denn diese Lüge dient, sie will immer etwas bewirken, beim Gegenüber, einem gedachten Leser, einem Auditorium, immer aber bei einem Menschen. Deshalb ist die Lüge kein Ding, dass da irgendwo in der Welt ist (ein Seinsmangel), sie ist nur sinnvoll in Bezug auf den anderen. Man könnte nicht von einer Lüge sprechen, wenn ich meiner stämmigen Rotbuche im Vorgarten erkläre, dass ich den Nobelpreis gewonnen hätte (aber sehr wohl von einer veritablen Fehlleistung esoterischer Natur) – und auch Fälschungen, getürkte Verträge und dergleichen sind keine verdinglichten Lügen, sondern wollen etwas bewirken (die Konstantinische Schenkung wurde absichtsvoll erstellt; ungelesen oder ohne Täuschungsabsicht, bliebe sie ein bloßes Stück Papier, aber noch nicht mal eine Lüge).

Und weil die grundsätzliche Begrifflichkeit die Autorin nicht weiter kümmert, kann sie dann auch noch den Schwadroneur als Lügner bezeichnen, der möglicherweise bloß gern Geschichten erzählt – zum eigenen und fremden Vergnügen (und wenn schon Geschichten, dann nach Möglichkeit gute Geschichten, ob sie auch wahr sind, ist meist zweitrangig). – Stangneths Text liest sich wie ein freies Assoziieren, manchmal witzig oder interessant, dann wieder beliebig oder gar unsinnig. Ob sie trotz allem einem Abschluss zustrebte (oder dergleichen gar erreicht hat), blieb mir verborgen: Kein Seinsmangel ist da die Ursache (denn das Buch liegt hier), sondern ein ganz banaler Zeitmangel, eine Zeit, die ich anderen, gehaltvolleren Büchern nicht vorenthalten will.


Bettina Stangneth: Lügen Lesen. Reinbek b. Hamburg.: Rowohlt 2017.

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