William Blake (der auch eine Ausgabe davon illustriert hat – leider nicht meine) schrieb bekanntlich über Paradise Lost bzw. John Milton Folgendes:
The reason Milton wrote in fetters when he wrote of Angels & God, and at liberty when of Devils & Hell, is because he was a true Poet and of the Devil’s party without knowing it. [in: The Marriage of Heaven and Hell, 1793]
Auf Deutsch heißt das ungefähr so viel wie: Der Grund, warum Milton in Fesseln schrieb, als er über Engel und Gott schrieb, und in Freiheit, wenn er über Teufel und Hölle schrieb, ist, dass er ein wahrer Dichter und von der Partei des Teufels war, ohne es zu wissen. Blakes Aussage hat über Jahrhunderte die Lektüre von Laien wie von Fachleuten geprägt, auch wenn der Herausgeber meiner Ausgabe, Christopher Ricks, dafür plädiert, das Wort, den Sohn Gottes, als Hauptfigur anzunehmen. Ich komme noch darauf. Zuerst aber zu den Teufeln bei John Milton.
Tatsächlich wird man bei der Lektüre von Paradise Lost den Verdacht nicht los, dass Milton die Teufel, allen voran Satan, ihren obersten Heerführer und nach dem Fall Fürst der Unterwelt, so richtig ‚con amore‘ beschreibt – so richtig gut. Wobei ‚gut‘ hier nicht meint, dass Miltons Teufel moralisch-ethisch korrekt handelnde Wesen wären. Im Gegenteil: Selten wurden in der Weltliteratur moralisch-ethisch verwerflich handelnde (= ‚böse‘) Wesen so rabenschwarz geschildert wie in Paradise Lost. ‚Gut‘ bezeichnet hier die literarisch-künstlerische Qualität, die Präzision der Beschreibungen des an und für sich unbeschreibbaren Äußeren der Teufel ebenso wie die ihrer Taten. Denn der Leser erfährt fast alles über die Teufel, ihr Aussehen und ihre Gedanken – und verhältnismäßig wenig über Gott, seinen Sohn und die ihm treu gebliebenen Engel.
Es gibt wenige Werke der Weltliteratur, in denen eine derart konservative Einstellung des Verfassers in einer derart revolutionären Darstellung präsentiert wird, wie in Paradise Lost. Milton hat (in Cambridge) Theologie studiert. Er hat es dann zwar abgelehnt, ein Pfarramt zu übernehmen, weil er in der streng hierarchisch geordneten Episkopal-Kirche der Zeit keinen Platz für seine zum Teil abweichenden Dogmen sah, und beschlossen, sich als Poet zu etablieren. Aber strenggläubiger Christ ist er geblieben. Wenn er sich nun daran macht, die Ereignisse der Genesis zu schildern, den Sturz der Engel um Luzifer, die Verführung von Eva und Adam durch die Schlange im Paradies und schließlich deren Vertreibung aus demselben, beladen mit der Erbsünde, so bleibt er inhaltlich wie dogmatisch so ziemlich auf der Linie der Kirche und des 1. Buch Mose. Nur, dass er einiges ein wenig erweitert. Aber wie! Welch gewagte Darstellung!
Das fängt schon mit dem Beginn des ersten Buchs an. Milton ruft, ein zweiter Homer, die Muse an, ihm bei der Abfassung seines Epos behilflich zu sein. Es ist nicht ganz die klassische Muse, aber der Anklang an die Ilias ist unüberseh- und unüberhörbar. (Das Ganze wird, nebenbei gesagt, in Blankversen erzählt. Denn ein Epos – so Milton – hat in Versen zu sein, wenn auch in welchen, die der Sprache des Erzählers angemessen sind. Im Falle des englischsprachigen Paradise Lost also die dem Englischen angemesserenen Blankverse statt der Hexameter des Griechen Homer.) Nach dem Anruf der Musen geht es in medias res. Milton beginnt nicht wie die Genesis bei der Schöpfung der Welt (die kommt später). Er setzt ein bei dem Moment, als die besiegten Teufel nach ihrem Sturz in die Hölle sich so langsam wieder berappeln. Man beginnt, sich zu organisieren und zu überlegen, ob man nochmals einen Angriff auf Gottes Thron starten solle, doch lieber auf Gottes Vergebung hoffen, oder das göttliche Reich durch einen Angriff durch die Hintertür erobern. Es hat sich nämlich damals, noch im Himmel, herumgesprochen, dass Gott beabsichtige, eine neue Welt zu schaffen, mit neuen Wesen, den Menschen. Es wird beschlossen, dass diese Menschen das Ziel des erneuten Angriffs sein werden, und der Höllenfürst Satan wird ausgeschickt, diese neue Welt zu suchen und den Menschen auszuspionieren. Er passiert zunächst das eigentlich bewachte Tor der Hölle, danach durchquert er das Chaos, durch das hindurch man ihn und sein Heer geschleudert hatte, als man ihn im Himmel besiegte, und findet die Welt, das Paradies und darin Adam und Eva. All dies wird im Detail (und eben: ‚con amore‘!) in den ersten Büchern von Paradise Lost geschildert.
Milton mischt, nebenbei gesagt durch sein ganzes Epos hindurch in seine Beschreibungen himmlischer, höllischer oder auch irdischer Ereignisse oder Gegenden immer wieder Anspielungen auf die antike griechische Mythologie – neben welchen aus der Realität (Galilei wird ebenso zu einem Vergleich beigezogen, wie die beiden gefallenen und nun mit einem notdürftigen Lendenschurz bekleideten Menschlein Adam und Eva mit den Eingeborenen, die Christoph Kolumbus in der Neuen Welt angetroffen hat!) Ich weiß nicht, wie weit es in Miltons Absicht lag, aber er gibt seinem Erzähler dadurch, zumindest im Rahmen seines Epos, eine gottgleiche Position, sind doch auch für ihn sozusagen alle Ereignisse dieser und jener Welt zeitgleich (und auch poetische Welten haben die gleiche Tinktur), was cum grano salis als Definition der Ewigkeit gilt, die von der Theologie Gott zugeschrieben wird. Eine poetologische Konsequenz, die erst Jahrhunderte später, vor allem im 20. Jahrhundert, so richtig erkannt und ausgereizt werden sollte.
Zurück zur Geschichte als solcher: Es gelingt dem Teufel, wie aus dem alttestamentarischen Buch Genesis wohlbekannt, zunächst Eva, die verstandesschwächere, zum Genuss des verbotenen Apfels zu überreden. (Miltons Frauenbild ist mehr als nur konservativ…) Adam, wird dann seinen Bissen sehenden Auges nehmen, weil er das weitere Schicksal von Eva aus Liebe zu ihr teilen will. Erst hier nun, wo die beiden Menschlein für ihre Missetat bestraft werden, und die Teufel und die Schlange mit ihnen, wendet sich Milton für den Rest seines Epos mehr oder minder der Gegenpartei zu und schildert aus himmlischer Sicht die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies, mit dem hoffnungsvollen Ausblick darauf, dass der Sohn Gottes, der Luzifer schoen einmal besiegt und aus dem Himmel geworfen hat, auch die von seinem Vater verhängte Strafe des Todes und der Erbsünde auf sich nehmen und die Menschheit so davon erlösen wird. Auf Grund der zweiten Hälfte des Epos (und des Umstands, dass nun im zweiten Teil von Paradise Lost die Teufel in den Hintergrund treten), könnte man wohl wirklich behaupten, dass die eigentliche, wenn auch etwas klandestine Hauptfigur in Miltons Epos der Sohn Gottes ist.
(Man wird natürlich, nebst den Inkonsequenzen, die aus der Vorlage selber, dem Buch Genesis stammen, im ganzen Epos auch viele seltsame Dinge finden, die von Milton so eingeführt wurden und nicht so ganz logisch sind. Die Jahrhunderte von scholastischen Diskussionen hervorrufende Frage, ob Gott, der ja alles schon zuvor weiß, nicht nur zulässt, dass Adam und Eva in Sünde fallen, sondern es auch so geboten hat, wird auch von Milton mit der klassischen Antwort einer Unterscheidung zwischen ‚Vorher-Wissen‘ und ‚Schon-so-geboten-Haben‘ beantwortet. Dennoch stellt Gottes Allwissenheit den genauen Leser vor ein paar knifflige Fragen. Darunter, um nur ein Detail zu nennen, die, warum zuerst das Tor zur Hölle und dann auch der ganze Bezirk des Paradieses von den Engeln mit großer Sorgfalt bewacht werden sollen, wenn Gott sowieso schon weiß, dass es Luzifer gelingen wird, seine ehemaligen Arbeitskollegen auszutricksen. Zuvorderst aber steht sicher das Problem, wie Milton das Verhältnis von Gott-Vater zu Gott-Sohn gestalten sollte. Es kann – gerade in einem Epos! – fast nicht anders sein, als dass dem Leser zwei Personen vor Augen geführt werden, was theologisch nicht ganz korrekt ist. Wenn die zwei Personen, die ja im Grunde genommen eine sind, von denen jede ganz genau weiß, was die andere denkt oder will, dann über die weiteren Maßnahmen diskutieren, die gegen Satan oder zur Bestrafung der Menschlein unternommen werden sollen, wird es für jemand ohne gefestigten christlichen Glauben fast ein wenig komisch. Wenn auch unfreiwillig. Die dritte Person der Trinität übrigens, der Heilige Geist, hat in Paradise Lost keinen Auftritt. Wenn Luzifers Heer sich nach dem ersten Tag der Schlacht mit den treu gebliebenen Engeln in den Norden zurückzieht, ist das zwar insofern logisch, als dass der Norden schon immer mit dem Teuflischen assoziiert wurde, aber andererseits insofern unlogisch, als dass die eigentlichen Tage und Nächte erst mit der Schöpfung der Welt in Existenz kamen, und ‚Norden‘ als Himmelsrichtung keinen Sinn ergibt, wenn die Welt als solche noch nicht existiert. Denn Gott wird diese bei Milton erst nach dem Sturz Luzifers erschaffen…)
Kommen wir zum Schluss auf die Szene, die Milton – neben der Schilderung der gestürzten Teufel und der Schlacht um die Vorherrschaft im Himmel – am besten gelungen ist. Ich meine jene nachgerade anakreontisch-idyllische Schilderung am Vorabend des Falls der Menschheit. Gott-Vater, um nichts unversucht und ungetan zu lassen, wie er zu seinem Sohn sagt (siehe dazu aber den vorangegangenen Abschnitt!), gibt dem Erzengel Raphael einen Nachmittag frei. Er soll diesen freien halben Tag dazu benutzen, um bei Adam und Eva vorbei zu schauen und sie noch einmal eindrücklichst vor dem Bösen und der Verführung zu warnen. Gesagt, getan. Die folgende Schilderung nun, wie die beiden Menschlein den Erzengel einladen, mit ihnen zusammen zu essen, wie sie ihm die besten Früchte aus dem Garten Eden vorsetzen, sowie frisch gepressten Fruchtsaft (unvergoren, wie Milton hinzuzufügen sich beeilt), wie die drei sich um einen improvisierten Tisch versammeln und nun zusammen plaudern, ist gar zu köstlich. (Nebenbei gibt diese Szene Milton nun auch die Möglichkeit, die Geschichte des Aufstands und des Falls nachzuholen, die er ja mit seinem Einsatz bei den frisch in der Hölle gestrandeten Teufeln vorausgesetzt hat.) So ein Paradies ließe ich mir auch gefallen. Auch wenn Adam und Eva im Paradies offenbar vegan lebten…
Eine in ihrer gewagten Art sehr eindrückliche und spannende Lektüre.