Lady Mary Montagu, wie sie auf dem Schutzumschlag meiner Ausgabe ihrer Briefe aus dem Orient genannt wird, war – ähnlich wie Marie von Bunsen – eine jener Frauen aus relativ guten Verhältnissen, die in der Lage waren, diese ihre guten Verhältnisse auch in eine gute und umfangreiche Bildung umzuwandeln. Diese Bildung ging auch bei Lady Mary über das hinaus, was zu ihrer Zeit junge Frauen von Adel lernten. Sie hat sich aber ihre Bildung offenbar selbständig und gegen den Willen ihres Vaters geholt, indem sie die Bücher ihres älteren Bruders las. Das war zu ihrer Zeit – sie kam runde 200 Jahre vor Marie von Bunsen zur Welt (nämlich 1689) – eine noch größere Ausnahme, als an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ihr Vater war der 5. Earl of Kingston, später 1.Duke of Kingston. Ihr Mann (den sie gegen den Willen des Vaters heiratete, der hatte eine standesgemäßere Heirat vorgesehen – aber es handelte sich hier um eine echte Liebesheirat) war Sir Edward Wortley Montagu – nicht gerade bürgerlich, aber eben auch nicht aus dem Hochadel. Immerhin war er Mitglied des Unterhauses und wurde mit der Thronbesteigung von George I Junior Commissioner of the Treasury, worauf die Familie (es war unterdessen ein Sohn vorhanden) nach London umzog und Lady Mary Zugang zum englischen Hof erhielt. 1716 wurde Sir Edward Wortley Montagu zum Botschafter am Osmanischen Hof ernannt, und die Familie reiste über die Niederlande, Köln, Nürnberg und Regensburg nach Wien. Dort hatte sie einen längeren Aufenthalt, bevor sie zunächst nach Hannover reiste, wo sich George I lieber aufhielt als in London, und wo Sir Edward Wortley Montagu offenbar noch weitere Instruktionen erhielt. Die Reise führte über Prag, Dresden, Leipzig und Braunschweig. Auf demselben Weg ging es zurück nach Wien und nach einem weiteren Aufenthalt dort (Lady Mary war das Wiener Hofzeremoniell und die schlecht geheizten Räume unterdessen leid) endlich ins Osmanische Reich – um nur die Stationen zu erwähnen, von denen (in meiner Auswahlausgabe) Briefe der Lady Mary an Freunde und Verwandte zu Hause erhalten sind. Offenbar war man allerdings am englischen Hof mit Sir Edward Wortley Montagu nicht so richtig zufrieden; bereits 1717 wurde er wieder abberufen, und 1718 reiste die Familie (unterdessen noch um ein in Konstantinopel geborenes Mädchen vergrößert) durch die Dardanellen und übers Mittelmeer via Malta, Tunis, Genua, Turin, Lyon und Paris zurück nach London. Sir Edward Wortley Montagus diplomatische Karriere war damit beendet. Er blieb den Rest seines Lebens ein unbedeutendes Mitglied des Unterhauses; trotz der Tatsache, dass es einmal eine Liebesheirat gewesen war, lebte sich das Paar auseinander: Wir finden Lady Mary später alleine in Frankreich und Italien, während Sir Edward in London blieb.
So weit das Biografische.
Nun zu ihrer Reise nach Konstantinopel und zurück. Lady Mary schrieb nicht nur gerne Briefe, sie schrieb auch gute Briefe. Unter ihren Briefpartnern und -parterinnen finden sich nicht nur ihre jüngere Schwester, sondern auch weitere Damen vom englischen Hof, ein französischer Abbé, sowie der Dichter Alexander Pope. Lady Mary verstand es, sich den Empfängern ihrer Briefe anzupassen. An ihre Schwester schrieb sie über Architektur oder Gemälde, die sie gesehen hatte, an die Damen vom Hof eher über die Mode oder das Zeremoniell an den Höfen in Wien und in Konstantinopel; die Briefe an Alexander Pope waren gespickt mit Zitaten und Anspielungen aus den antiken Klassikern ebenso, wie aus der englischen Gegenwartsliteratur. Ihr Lesehorizont war tatsächlich äußerst umfangreich. Sie kannte, zitierte oder spielte an auf: Thomas Hobbes, John Milton, Joseph Addison, Theokrit, Nicolas Boileau, Vergil, Ovid, Don Quijote, Sappho, Theophrast, Empedokles, Lukian oder Lukrez; auf dem Heimweg, in den griechischen Inseln (damals Teil des Osmanischen Reichs!), suchte sie mit dem Homer in der Hand nach den Resten Trojas. Später in Nordafrika waren es die Reste Karthagos, die sie interessierten und faszinierten.
Lady Mary reiste sehr unvoreingenommen. Sie bildete sich zum Gesehenen in jedem Fall ihre eigene Meinung und zögerte auch nicht, an den Beobachtungen anderer Reisenden, die vor ihr an einem bestimmten Ort gewesen waren, in zum Teil beißendem Ton Korrekturen anzubringen. Das natürlich vor allem dann, wenn sie als Frau Zugang zu Stätten oder Personen hatte, die den Männern verwehrt geblieben waren, und wo letztere mehr vom Hören-Sagen berichteten denn aus eigener Anschauung. Nicht immer hatte Lady Mary übrigens Recht, manchmal war es auch bloße Rechthaberei von ihrer Seite, die vor allem den geschichtlichen Fakten nicht standhält. (Allerdings war zu ihrer Zeit die Geschichtswissenschaft noch nicht in allen Fällen in ihren Erkenntnissen auf dem heutigen Stand.) Sie reist mit offenen Augen und sieht zum Beispiel in Frankreich, wie das Volk durch die Regierung eines Louis XIV und dessen Urenkel-Nachfolger Louis XV ausgeblutet und ausgehungert wird. Dies stellt für die noch immer an osmanische Verhältnisse gewohnte Frau einen großen Schock dar. In Konstantinopel gab es zwar Sklaverei, aber die Sklaven wurden – jedenfalls nach ihren Beobachtungen – besser gehalten als so manche Küchenmagd in englischen Schlössern. Auch, was die Stellung der Frau im muslimischen Haushalt betrifft, findet sie in Konstantinopel eine größere Bewegungsfreiheit vor, als bei den Frauen in England. (Wobei man sich vor Augen halten muss, dass Lady Mary meist von Frauen der höheren Gesellschaftsschicht spricht, der sie selber angehört und zu der sie als Gattin des englischen Gesandten Zugang hat.) Gerade die im christlichen Abendland so häufig kritisierte Verschleierung (die sie in Konstantinopel auch selber trägt) gebe, so Lady Mary, den Frauen sehr viel Freiheit. Da niemand es wagt, eine Frau auf der Straße anzusprechen, kann sie unter dem Deckmantel eben dieses Schleiers und eines Mantels, die sie völlig unkenntlich machen, gehen, wohin sie möchte und ihre Liebhaber treffen, wann und wo sie will. Auch was die übrige Bekleidung betrifft, zieht Lady Mary – zumindest im warmen Klima Konstantinopels – es vor, sich auf türkische Weise anzuziehen, eine Weise, die sie als dezenter empfindet als die westliche Art. Sie betritt auch mehrere Harems oder Serails und spricht mit den Gattinnen hochgestellter Männer. Diese sind, nach ihrer Feststellung, finanziell völlig unabhängig von ihren Gatten (ihr Erbe gehört ihnen und nicht wie in England dem Mann!), und können ihm deshalb so einiges vorschreiben. Einzig die Sitte, dass man (frau) meist gegen außen eine funktionierende Ehe vorzeigen können muss, und das nur möglich ist über das Vorzeigen von jährlich gezeugten Kindern (was zehn- und mehrköpfige Familien zu keiner Seltenheit macht) – einzig diese Sitte will Lady Mary nicht so richtig einleuchten.
Gerade dieser intimere Blick in die Serails waren es, die schon zu Lady Marys Lebzeiten großes Interesse an ihren Briefen aus dem Orient weckten. Alexander Pope veröffentlichte auf eigene Faust ein paar davon. Andere zirkulierten offenbar als Privatdruck. Eine der frühen englischen Frauenrechtlerinnen, Mary Astell, schrieb für diesen Privatdruck ein Vorwort, das meiner Ausgabe beigegeben ist, und in dem Astell herausstreicht, wie wichtig eben auch der weibliche Blick auf fremde Länder sei, weil die Frau andere Dinge als wichtig und bemerkenswert erachtet, als der Mann, zum Teil auch – eben gerade in Ländern wie dem Osmanischen Reich – Zugang erhält zu Dingen und Orten, über die den Männern entweder nur lüsterne Geschichten aufgetischt werden, die sie dann als Wahrheit wiedergeben, oder wo man ihnen an Stelle eines Harems für westliche Vorurteile eingerichtet Buden zeigt, die mit dem realen Leben osmanischer Frauen nichts gemein haben.
Alles in allem empfiehlt sich Lady Mary Montagu durch einen lebendigen Stil und einen frischen, unbekümmerten Blick auf das Leben – zwar nicht des Volks, aber doch der oberen Zehntausend – in den Ländern und Städten, in denen sie sich längere Zeit aufgehalten hat. Glauben muss man ihr dennoch nicht alles.