Politik mit den Augen des Thukydides
Thomas Hobbes hat als einer der ersten überhaupt Thukydides in seine Muttersprache übersetzt (Lorenzo Valla übersetzte ihn ins Lateinische), und das darf nicht wundern, präsentiert uns doch der antike griechische Ex-General den Homo politicus und die Politik im Allgemeinen praktisch genau so, wie es viel später der Engländer tun sollte: rücksichtsloses Vorgehen gegenüber ‚Freunden‘ wie Feinden; was zählt ist der eigene Vorteil. Und selbst der wird nur für den Moment betrachtet; langfristiges Denken ist nicht die Regel. Ein Schwur? Ein Vertrag? Eine Allianz? Wenn mir der Schwur von heute nicht mehr gefällt, leiste ich morgen einen anderen, entgegengesetzten. Wenn mir der Vertrag von heute nicht gefällt, verlange ich Nachverhandlungen oder setze einen anderen auf mit den Feinden meines bisherigen Vertragspartners. Wenn ich mich in einer Allianz nicht mehr wohlfühle, revoltiere ich und ziehe gegen meine bisherigen Alliierten in den Krieg – als Mitglied der gegnerischen Allianz. Und wenn mir übermorgen der Schwur von morgen nicht mehr gefällt, leiste ich einen dritten – vielleicht den nämlichen wie der erste, vielleicht einen ganz anderen. Dasselbe für Verträge oder Allianzen.
Thukydes schildert das mit verblüffendem Gleichmut. Obwohl von Haus aus Athener und aus aristokratischer Familie, ist er in seinem Geschichtswerk neutraler Beobachter und Schilderer der Ereignisse. Er – und das macht ihn tatsächlich zu einem der ersten wissenschaftlich brauchbaren Geschichtsschreiber – wertet die Handlungen seiner Protagonisten selten bis nie. (Nur ganz zum Schluss des beendeten Teils, schon fast verzweifelt ob der Zurückhaltung, ja Tatenlosigkeit, der Spartaner, erst da kritisiert er deren ständige Unentschlossenheit und stellt sie der Entschlusskraft der Athener gegenüber. Wobei er dann wieder zugeben muss, dass die Athener in vielen Fällen allzu rasche Entschlüsse fällen.)
Der Melierdialog
Über Thukydides‘ Geschichtswerk ist viel geschrieben worden. Ich will jetzt auch gar nicht auf die ganzen in meiner Edition rund 550 Seiten eingehen.
Eine eingehendere Betrachtung verdient aber der so genannte Melierdialog. Wir finden ihn im fünften Buch. Das eigentliche Ereignis, die Unterwerfung der Inselbewohner von Melos unter das attische (also de facto athenische) Seebund-Regime, ist im großen Rahmen des peloponnesischen Kriegs ein marginales Ereignis. Dennoch verlässt Thukydides hier seine gewohnte Erzählweise. Zum einen formal: An die Stelle eines auktorialen und neutralen Berichts tritt ein Dialog, der vorgeblich vor dem Rat der Adligen auf Melos stattgefunden hat. „Vorgeblich“, denn dass das Ganze sich so abgespielt hat, ist äußerst unwahrscheinlich – dies der zweite, inhaltliche Punkt, an dem Thukydides von seinem gewohnten Stil abweicht, in dem er ansonsten auch die Reden zwar nicht wörtlich, aber zumindest sinngemäß korrekt wiederzugeben sich bemüht. Vor allem die athenischen Aggressoren werden ihre Reden kaum so geführt haben, wie sie von Thukydides berichtet werden. Was sie liefern, ist ungeschminkte, kaltschnäuzige, utilitaristische Realpolitik. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie; und den Meliern wird nur die Wahl gelassen zwischen Knechtschaft (im Falle einer Unterwerfung) und Tod (in dem Fall, dass die Athener zu den Waffen greifen müssten). Die Neutralität der Melier wird nicht anerkannt, nicht respektiert – die Verdienste aus den gar nicht so lange zurückliegenden Perserkriegen, in denen die Melier als eine der wenigen Inselnationen gegen die Perser aushielten, ebenso wenig. Dass ihnen Sparta zu Hilfe käme, könnten die Melier ebenfalls gleich vergessen, denn auch die Spartaner würden eine politische Kosten-Nutzen-Rechnung durchführen, und Melos wäre zu unbedeutend, um seinetwegen ein Heer auszustatten und auszuschicken. Vor allem aber sollten sich die Melier ja nicht auf etwaige Orakel verlassen, die ihnen einen glücklichen Ausgang dieser Auseinandersetzung prophezeit hätten – denn Orakel (Thukydides formuliert es nicht ganz so) seien Schall und Rauch. Es kam dann auch, wie es kommen musste: Die Melier, die sich trotz allem weigerten, sich zu ergeben, wurden von den Athenern zunächst praktisch ausgehungert; als sie sich dann aus Hunger ergeben mussten, wurden wider alle Abmachungen alle Männer getötet, die Frauen und Kinder als Sklaven verkauft.
Die sizilianische Expedition
So weit die tatsächlichen geschichtlichen Ereignisse. Warum aber ist hier Thukydides so weit von seinem Pfad abgewichen – in Stil wie in Inhalt? Die Antwort folgt eigentlich auf dem Fuß – bei der Schilderung, wie es zur (zweiten) sizilianischen Expedition der Athener gekommen ist und welches ihr Schicksal war. Schon bei der Entschlussfassung (und dieser Entschluss war tatsächlich einer von denen, die die Athener viel zu rasch trafen), schon bei der Entschlussfassung also geben weder der Wortführer Alkibiades noch die athenische Volksversammlung ein wirklich schönes Bild ab. Das Ende war entsprechend: Die Athener hatten sich übernommen und die Expedition endete in einem Desaster, das von Thukydides, nebenbei, bei aller Neutralität der Berichterstattung herzergreifend geschildert wird. (Dann aber folgt sofort eine leise angedeutete Kritik an den Spartanern und ihren Verbündeten, die – anstatt ihren Sieg auszunützen und sofort das geschwächte und geschockte Athen anzugreifen und endgültig zu unterwerfen – einmal mehr zögerten und so letztlich den Krieg unnötig verlängerten.) Zum Schluss seiner Berichterstattung aus Athen aber von Thukydides die Bemerkung, dass die Athener nun plötzlich wütend waren auf alle Orakel und Priester, die einen glücklichen Ausgang der Expedition vorher gesagt hatten.
Mit andern Worten: Was die Athener soeben noch den Meliern empfohlen hatten – sie beachteten es selber nicht. Hier finden wir – zum einzigen Mal in der Berichterstattung des Thukydides einen Hinweis auf eine die tatsächlichen Ereignisse transzendierende menschliche Hybris, eine Überhebung gegenüber den Göttern oder dem Schicksal. Diese menschliche Hybris war einer der zentralen Aufhänger, an denen sein Vorgänger als Schreiber einer griechischen Geschichte, Herodot, seinen Bericht fixiert hatte. Somit finden wir hier, zum ersten und einzigen Mal in seinem Text, eine Referenz, die Thukydides seinem Vorgänger erweist.
Fragment
Herodot schrieb jahrelang an seinen 9 Büchern zur Geschichte und konnte sie dennoch nicht zu Ende schreiben, da er infolge Abgangs durch Tod verhindert war. Thukydides ging es ebenso: Nach jahrelanger Arbeit, die sich unter anderem an einem Perspektivenwechsel in Buch VII zeigt, wo sich der Autor dessen bewusst geworden zu sein scheint, dass die Rolle der persischen Herrscher, die im Hintergrund seit längerem fröhlich mitmischten, dass diese Rolle also näher beleuchtet sein musste – und sei es nur, weil da ein gewisser Alkibiades war, der aus Athen nach Sparta floh, zurückkam, wiederum floh, diesmal zu einem persischen Satrapen, der ihn dann ermorden ließ, nach jahrelanger Arbeit also hat auch den Thukydides der Tod vor Beendung seines Berichts ereilt. Nicht einmal einen Titel konnte er ihm geben. Mitten im achten Buch bricht der Text unvermittelt ab. (Und so wie Thukydides seinen Bericht ziemlich genau dort einsetzen ließ, wo sein Vorgänger abbrechen musste, würde Xenophon wiederum praktisch auf den Punkt genau in seinem Geschichtswerk Hellenika einsetzen, wo Thukydes nicht mehr fortfahren konnte. Was bedeutet, dass ich, wenn ich wissen will, wie der peloponnesische Krieg endet, auch die Hellenika lesen muss.)