Denis Diderot: Die Nonne [La Religieuse]

Von allen vier Romanen Diderots ist dieser hier vielleicht der schwächste (wenn wir einmal vom Nachgestellten Vorwort absehen – das wird uns noch vor Probleme stellen). Während Rameaus Neffe nur schon wegen seiner bizarren Titelfigur einen bleibenden Platz in der Weltliteratur verdient hat und Jacques der Fatalist und sein Herr wegen des Aufbaus des Romans und dies wegen des Titelhelden tut, Die geschwätzigen Kleinode wegen ihrer zeitlosen Satire an den Mächtigen und Korrupten ebenso wie wegen der philosophischen Exkurse und erotischen Motive zumindest eine ehrenwerte Erwähnung darin verdienen (die ihnen bis heute verwehrt geblieben ist), so leidet Die Nonne darunter, dass sie inhaltlich und formal äußerst zeitgebunden ist (wenn wir einmal vom Nachgestellten Vorwort absehen – das wird uns noch vor Probleme stellen).

Die Nonne erzählt in der Ich-Form eines Berichts an den Marquis de Croismare das Leben einer jungen Frau. Suzanne, so heisst sie, ist zum Zeitpunkt der Abfassung ihres Berichts gerade mal 20 Jahre alt. Sie ist in einer Familie zur Welt gekommen, die nicht arm ist (allerdings auch nicht sonderlich reich, wie sich herausstellt). Schon früh im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass der Mann, den sie als ihren Vater kennen gelernt hat, nicht ihr Erzeuger ist. Sie ist die Frucht eines mütterlichen Seitensprungs. Ihr nomineller Vater hasst sie und ihre Mutter deswegen; ihre Mutter hasst sie, weil sie ihretwegen von ihrem Gatten gehasst wird. Sie wird schon als Kind bei jeder Gelegenheit hintangestellt. Als junge Frau wird sie praktisch gezwungen, ins Kloster zu gehen, weil der Mann ihrer Mutter (und auch diese) ihr ganz klar machen, dass das Erbe, das ja in den damaligen Verhältnissen der Mann verwaltete, ausschließlich dessen beiden leiblichen Töchtern als Mitgift zu Gute kommen würde. (Was denn auch geschah. Leider reichte es auch so nicht weit – was der Mutter später verunmöglichte, der Nonne in ausreichendem Masse behilflich zu sein, wie sie es denn dann doch gerne getan hätte, wenn wir der Tochter glauben.)

Im Folgenden schildert Suzanne ihrem Marquis ihre Erlebnisse in drei verschiedenen Klostern. Sie hat im Laufe der paar Jahre, die die Erzählung umfasst, einiges erlebt und durchgemacht: eine gütige und kluge Oberin, aber auch eine Sadistin, die das ganze Kloster gegen sie aufhetzt und sie seelisch wie körperlich quält (quälen lässt – was Diderot recht ausführlich beschreibt). Zum Schluss landet sie in einem Kloster, deren Oberin nicht nur lesbisch ist, sondern auch von ihrem Sexualtrieb ziemlich tribuliert wird. Diese Oberin verliebt sich in die nicht unhübsche Novizin und versucht, sie zu verführen. Da ein Versuch, ihr Gelübde vor Gericht für ungültig erklären zu lassen, gescheitert ist, bleibt der jungen Frau nur die Flucht aus diesem letzten Kloster – umso mehr als ihre geile Oberin ob der Zurückweisung durch die Unschuld vom Lande den Verstand verloren hat und die neue Oberin wieder eine von der sadistischen Sorte ist, die es auf Suzanne abgesehen hat. Das Muster der verfolgten und gequälten Unschuld vom Lande hat nicht nur Diderot als Mittel der Kritik an den herrschenden Verhältnissen verwendet – inklusive noch ausführlicherer Schilderung der körperlichen Quälereien kennen wir es von de Sade. (Denn auch bei ihm – nebenbei gesagt – erfolgen die Schilderungen nicht einzig der sexuellen Erregung wegen, sondern sind Mittel zum Zweck: der Schilderung der Dekadenz und Verluderung der Führungsschichten im Ancien Régime.)

Dieser Roman sei der schwächste der Diderot’schen, habe ich zu Beginn gesagt. Und in dieser zentralen Klostergeschichte liegt eine der Schwächen, einer der Gründe, warum dieser Roman – im Gegensatz zu den andern des Autors – so schlecht gealtert hat: Alle anderen Romane (und auch de Sade!) lassen sich lesen unabhängig davon, in welcher politischen Verfassung Leser oder Leserin leben. (Man wird unter Umständen andere Aspekte des Textes in den Vordergrund stellen, das ist alles.) Hier aber haben wir mit der Versorgung ‘überzähliger’ Töchter in einem Kloster ein Phänomen als Angelpunkt, das es so nicht mehr gibt. (Das es schon, als der Roman 1796 endlich in Paris veröffentlicht werden durfte – Diderot war da schon seit 12 Jahren tot – nicht mehr gab, da der neue französische Staat die Klöster allesamt aufgehoben hatte. Wir sind aber auch erzähltechnisch in einer veralteten Situation. Die ins Larmoyante spielende Ich-Erzählung ist eine Frucht der Bewunderung, die Diderot – zumindest eine Zeitlang – für den englischen Romancier Samuel Richardson hegte, dessen Clarissa an allen Ecken und Enden aus Diderots Nonne hervorguckt. Richardson lesen heute wohl nur noch Literaturhistoriker (und die nach wie vor der Larmoyanz verhafteten Drehbuchautoren von Holly-, Bollywood & Co. – auch Die Nonne wurde noch im 21. Jahrhundert verfilmt; ich wage mir das Resultat nicht vorzustellen). Diderot verzichtet auf jede erzähltechnischen Mätzchen, und das tut der Geschichte nicht gut. Während im 20. Jahrhundert der Briefroman in Form des schriftlichen Rechenschaftsberichts, der zu einer Autobiografie des Ich-Erzählers ausartet, von Hermann Burger in höchster Virtuosität auf ein neues Niveau gehoben wurde, lässt Diderot seine Heldin alles schön der Reihe nach erzählen. Auch wird ihr Bericht nie angezweifelt, auf welche Art auch immer. Das einzige wirklich feststellbare Kunststück ist, wie der Atheist Diderot eine Ich-Erzählerin gestalten konnte, die von naiver Frömmigkeit und Natürlichkeit ist, ohne diese Erzählerin je zu karikieren.

Aber – und hier kommt das große ‘Aber’, das den Interpreten in die Hölle widersprüchlicher Intentionen und Interpretationen stürzt: Diderots Roman beruht auf tatsächlichen Ereignissen. Diese Nonne, die auf Ungültigkeit ihres Gelübdes klagte, gab es wirklich. Wie in Diderots Roman wurde auch die Klage der echten Nonne abgewiesen. Anders als in Diderots Roman ist sie dann allerdings im Kloster geblieben, und als die Klöster von Staates wegen aufgehoben wurden, war sie eine jener Insassinnen, die wünschten, ihren Lebensabend dort verbringen zu können. (Verständlich: Die unterdessen über 70-Jährige wäre zu einem Leben außerhalb der schützenden Klostermauern gar nicht mehr in der Lage gewesen.) So weit noch kein ‘Aber’. Das kommt erst. Und zwar in der Form des Nachgestellten Vorworts zur »Nonne«, einem Auszug aus Grimms »Correspondance Littéraire«, Jahrgang 1770. Darin wird nun die Vorgeschichte (oder die Vorgeschichte zur Entstehungsgeschichte) des Romans erzählt. Die ist nun wahrlich seltsam. Diese Vorgeschichte wird von Grimm persönlich geschildert, von Diderot überarbeitet, und scheint sich tatsächlich so ereignet zu haben. Offenbar gab es damals im Freundeskreis um Grimm und Diderot auch einen Marquis de Croismare. Zu Anfang des Jahres 1759 (Grimm ist recht genau mit seinen Orts- und Zeitangaben) begab sich dieser Marquis nun in Geschäften auf seine Güter in der Normandie. Eigentlich hatte er versprochen, nur so lange auf dem Land zu bleiben, bis diese seine Geschäfte erledigt waren. Aber es kam eins zum anderen und sein Aufenthalt zog sich unvermutet in die Länge. Das wäre ja für den Freundeskreis noch nicht tragisch gewesen. Nur: Der Marquis drohte auf dem Land fromm zu werden. Es galt also, ihn wieder nach Paris zu locken und zu lotsen. Diderot kam auf die Idee, den Umstand, dass sich der Marquis seinerzeit beim Prozess der Nonne sehr für deren Anliegen engagiert hatte, auszunützen, indem er mit einer ausgeklügelten Mystifikation, und Briefen unter falschem Namen, den Freund in der Normandie glauben machte, die Nonne sei – da sie anders dem Gelübde nicht entkommen konnte – aus ihrem Kloster geflohen und ersuche nun um seine, des Marquis, Hilfe. Neben und zusätzlich zu den Briefen verfasste die angebliche Nonne für den Marquis dann eben auch den vorliegenden Bericht ihrer bisherigen Erlebnisse. Dieser Bericht, von Diderot offenbar schon immer als literarisches Werk, als Roman, angedacht, haben wir mit also mit Die Nonne nunmehr vor uns. Die larmoyante, herzzerreißende Story einer von Gott und der Welt missbrauchten jungen Frau: ein Scherz unter Freunden! Und ein ziemlich geschmackloser noch dazu … (Sowie, nebenbei, einer, der auf die Verfasser Grimm und Diderot zurückfiel: Statt, wie von den beiden erhofft, stante pede nach Paris zurückkehrte, verfiel der Marquis auf den Gedanken, die junge Frau könnte als eine Art Hofmeisterin seiner Tochter zu ihm in die Nähe von Caen kommen. Die imaginäre junge Frau musste auf Diderots Geheiß schwer erkranken. Aber das half nichts; der Marquis drängte um so mehr auf ein gesundes Landleben. Als er dann begann, auf seinen Gütern ein Zimmer für die imaginäre Ex-Nonne einzurichten und die bisherige Bedienstete seiner Tochter entlassen wollte, blieb den beiden Pariser Spitzbuben nichts anderes mehr, als die Nonne an den Verletzungen sterben zu lassen, die sie bei ihrer Flucht erlitten haben sollte. (Der Marquis kam dann von alleine nach Paris zurück, allerdings erst acht Jahre später und sehr fromm – eine Frömmigkeit, die sich in der Großstadt allerdings rasch wieder verlor …) Das alles erzählt uns das nachgestellte Vorwort. Es wurde ursprünglich von Grimm verfasst, aber, wie gesagt, von Diderot redigiert – der also durchaus wollte, dass es dem Roman beigefügt werde. Es konterkariert den ganzen Roman. Diderot alleine weiß, warum er dies so haben wollte. Den Roman rettet es sozusagen ex post aus dem Sumpf der larmoyanten Beliebigkeit, und das war vielleicht der Grund. Ich denke, dass Diderots Einstellung zu Richardson sehr rasch kritischer geworden ist. (Ich geb zu, Richardson hat als einer der ersten den Roman aus der Mythologie, dem Feenreich oder den Sphären adliger Helden in die bürgerliche Stube transponiert. Dafür sei ihm gedankt. Seine passiven, duldenden Frauengestalten, die zum Schluss ihren Peiniger noch heiraten, hingegen …)

Diderot-Grimms konterkarierendes Nachwort rettet Die Nonne so weit, dass man sie auch heute noch ohne schlechtes Gewissen lesen kann. Zumindest, wenn man über ein gewisses literatur- oder sonst geschichtliches Interesse verfügt.


Denis Diderot: Das erzählerische Werk in vier Bänden. O.O.: Aufbau-Verlag, 1995.

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