Ramon Llull (auch Ramon Lull), latinisiert Raimundus Lullus (auch Raymundus Lullus), ist der wohl originellste Denker des christlichen Mittelalters. (Ich zögere, ihn der Scholastik zuzurechnen, denn er hat nie die theologische Ausbildung an einer Universität erhalten, die die Scholastiker auszeichnet, ja überhaupt eine Ausbildung zum Priester.) Schon seine Herkunft und sein Werdegang sind speziell. Aus einem katalanischen Rittergeschlecht abstammend, wuchs er im heutigen Palma de Mallorca auf. Er war für eine weltliche Karriere am Hof bestimmt. Er fügte sich dem klaglos, wollte wohl auch selber nichts anderes. Jedenfalls widmete er sich einige Zeit der Dichtkunst als so genannter Troubadour – verfasste also weltliche Liebeslieder. Er heiratete und zeugte zwei Kinder. Erst dann veranlasste ihn eine Vision zu einer radikalen Umstellung seines Lebenswandels. Er unternahm Pilger- und Bildungsreisen und schloss sich der Laien-Sektion eines Franziskaner-Ordens an.
Palma de Mallorca, auch das ist nicht unwichtig für das Verständnis Llulls, war zu seiner Zeit – er lebte von 1232 bis 1316 – ein wichtiger Hafen und eine große Handelsmetropole: Zwischenstopp und / oder Umschlagplatz für die Handelschifffahrt zwischen dem nördlichen Afrika und dem südlichen Europa. Die Stadt war auch – wie damals praktisch die gesamte iberische Halbinsel – ein Schmelztiegel (um auch einmal diese Redewendung zu gebrauchen) dreier Kulturen / Religionen: Judentum, Christentum und Islam. Llull fühlte nach seiner Vision missionarischen Eifer und wollte, um mit den arabischen Muslimen besser verhandeln zu können, deren Sprache lernen. Es geht die Geschichte, dass sein Arabisch-Lehrer, offenbar ein fanatischer Muslim, ihm gegenüber die christliche Lehre der Dreifaltigkeit Gottes vehement angriff. Llull soll ebenso vehement geantwortet haben; Argument folgte auf Argument – zuletzt wurden die beiden miteinander handgreiflich. Llull gelang es, den Lehrer in einem Zimmer einzusperren. Er ging spazieren, um sein Gemüt abzukühlen. Als er zurückkam, nunmehr abgekühlt, und die Tür des Zimmers wieder aufsperrte, fand er den Muslim, der sich an einem Balken erhängt hatte. Das soll, so will es die Geschichte, der Ausgangspunkt gewesen sein für Llull, warum er den Dialog mit Andersgläubigen der gewaltsamen Bekehrung vorzog. Ob die Geschichte stimmt, weiss ich nicht – Llull hat in seinen mittleren Jahren durchaus für nicht ganz so friedliche Kreuzzüge plädiert. Nur der junge, und dann wieder der alte Mann propagierten den friedlichen Dialog zwischen den Religionen. Mit dem vorliegenden Dialog sind wir nun beim alten Mann.
Das Buch vom Heiden und den drei Weisen gehört zeitlich als Mittelstück in die Reihe der drei großen christlichen Toleranz-Dialoge, mit Abaelard als erstem und Nikolaus von Kues als Abschluss. In einigen Dingen unterscheidet sich der Mallorquiner aber signifikant von den beiden anderen, theologisch geschulten Denkern. Da ist der Umstand zu erwähnen, dass ihn Llull zunächst auf Katalanisch verfasst hat und erst später selber ins Lateinische übersetzte. (Wobei: Er schreibt zu Beginn von einem arabischen Original. Llull kannte die arabische Philosophie der Zeit, wendet sich einmal in diesem Text hier auch offen gegen Averroës – hat er einen Araber übersetzt oder sogar selber das Buch ursprünglich erst auf Arabisch geschrieben? (Das er, nach allem, was man weiß, besser beherrschte als das Lateinische.)) Da ist der Umstand, dass Llull als einziger der drei darauf verzichtet, das Gespräch als Inhalt einer mystischen Entrückung auszuweisen. Und das, obwohl gerade er nicht nur überhaupt zum christlichen Autor wurde durch ein mystisches Erlebnis, sondern auch seine Ars magna (Große Kunst), eine logisch-algorithmische Methode zur Wissensgewinnung und -sicherung, in einer mystischen Entrückung direkt von Gott erhalten haben wollte. Auch in diesem Dialog greift er indirekt darauf zurück: Es sind die Bäume, an Hand derer Blüten die drei Weisen dem Heiden ihren jeweiligen Glauben als einzig wahren beweisen wollen, angewandte Kombinatorik in einer anderen Darstellung.
Zu Beginn des Textes treffen wir auf einen Heiden, der ohne Kenntnis von Gott lebt. Es ergreift ihn eine unmäßige Trauer, um nicht zu sagen: eine Depression, angesichts des Gedankens, dass er eines Tages nicht mehr sein werde. Als Therapie wandert er in die Welt, um sich an deren schönen Dingen zu erfreuen; doch der Gedanke, dass ihm das eines Tages nicht mehr möglich sein werde, stimmt ihn nur noch depressiver. Schließlich verlassen wir ihn für einen Moment in einem Wald, in dem er umher irrt. In einem Szenenwechsel treffen wir auf die drei Weisen, die vor die Tore ihrer ungenannt bleibenden Stadt von einer anderen Seite her in denselben Wald spazieren, bis sie an einem sanften Hain auf eine frische Quelle stossen. Ein locus amoenus, wie er im Buche steht. Der Grund für den Spaziergang der drei Weisen war es, dass sie miteinander über ihre Religion diskutieren wollten – es handelt sich nämlich bei ihnen um je einen Juden, einen Christen und einen Muslim. An der Quelle stehen seltsame Bäume und eine edel gekleidete Frau von wunderbarer Schönheit, wie es sich herausstellt, die Intelligenz. (Später wird sie auch Weisheit genannt.) Sie erklärt den drei Weisen die fünf Bäume und deren Blüten, die mit beschrifteten Blättern prangen. Jedes Blatt weist zwei Begriffe aus, die im weitesten Sinne Tugenden oder Lastern entsprechen.
Völlig abgerissen kommt nun auch der Heide an die Quelle und klagt den Weisen sein Leid. Wie wenn sie die Bäume und die Blütenblätter schon immer gekannt hätten, weisen ihm die drei an Hand von Kombinationen der verschiedenen Begriffe auf den Blütenblättern nach, dass a) Gott existiert; denn das ist die Voraussetzung für b) die Auferstehung des Menschen nach seinem Tod. Llull verwendet dabei – und auch für alle folgenden Beweise – eine Variante des ontologischen Gottesbeweises Anselms von Canterbury. Jedenfalls gelingt der Trick beim Heiden, er glaubt nun an Gott und an eine Auferstehung. Hier zeigt sich Llull bemerkenswert unorthodox: Es gibt für ihn offenbar einen Begriff von ‚Gott‘, der noch völlig unabhängig ist von jeder Religion, die ihn verehrt. Doch genau das wird der nächste Punkt sein: Der Heide verlangt von den drei Weisen zu wissen, wie sie Gott verehrten. Als er erfährt, dass sie dies auf unterschiedliche Weise tun, und jeder die Art des anderen für falsch hält, fällt er sogleich in seine alte Depression zurück. Man bietet ihm an, dass jeder Weise die Wahrheit und Richtigkeit je seiner Religion – wiederum an Hand der Blütenblätter – auf bestmögliche Art beweist. Nachdem Buch 1 der Bekehrung des Heiden zu Gott gewidmet war, sind nun die Bücher 2 bis 4 den Beweisführungen der einzelnen Religionen vorbehalten. Llull verwendet dabei den Trick, die Gesprächspartner vereinbaren zu lassen, dass die drei Weisen der Reihe nach sprechen sollen und keiner dem andern ins Wort fallen darf. Fragen zu stellen ist dem Heiden vorbehalten.
Ich will jetzt die Beweisführungen nicht im einzelnen wiederholen. Mich hätte keiner von den dreien überzeugt: weder der Jude mit seinem Beharren auf dem Gesetz, noch der Christ mit seiner komplizierten Rechtfertigung der Dreifaltigkeit (Gott musste, um vollständig zu sein, zuerst in sich selber zeugen und hervorbringen, bevor er gegen außen zeugen und hervorbringen durfte), noch der Muslim mit seinem Paradies für notgeile Männer. Wie dem auch sei: Den Heiden konnte offenbar einer von den drei überzeugen. Er fällt auf die Knie und will seinen Glauben mitteilen. Da tauchen am Horizont zwei seiner Freunde auf. Der Neu-Bekehrte will zuerst ihnen mitteilen, was er gerade gelernt hat. Die drei Weisen sind es zufrieden. Zum großen Erstaunen auch des ehemaligen Heiden begehren sie nicht zu wissen, welchen Glauben er denn nun annehme. Damit haben wir die größte und interessanteste Abweichung Llulls von den üblichen Dialogen vor uns, die mehr oder weniger deutlich den Sieg des Christentums vor(her)sahen. Der Heide geht zu seinen Freunden; die drei Weisen aber entschuldigen sich gegenseitig untereinander, wenn sie im Eifer des Disputs die Religion des jeweils anderen beleidigt haben sollten. Sie kehren in die Stadt zurück und beschließen dabei, sich wieder zu treffen und den Dialog weiter zu führen.
Dieser letzte Punkt ist es, der Llull am meisten unterscheidet von Abaelard und dem Kusaner (der den Llull’schen Dialog ziemlich sicher kannte!). Er macht ihn auch in meinen Augen zum einzig echten Vertreter einer religiösen Toleranz – wenn denn eine Religion sein muss: das Beharren auf der Wichtigkeit eines ständigen, emotionslos geführten Dialogs.
Gelesen in der Theodor Pindl übersetzten und herausgegeben Fassung bei Reclam: RUB 9693 von 1998.