Die Menschen werden schon vor ihrer Geburt genormt, die Embryos in Flaschen gezogen, mit den entsprechenden Nährlösungen versorgt und schließlich entkorkt. Epsilon-Menschen sind die Paria der neuen Welt, ein Alpha-Plus ist als leitender Angestellter vorgesehen. Der Trick bei dieser hierarchischen Ordnung besteht darin, ihre Entwicklung von der Zeugung (im Reagenzglas) an so ablaufen zu lassen, dass das Ergebnis mit seinem Schicksal zufrieden ist: Ein Delta-Arbeiter fühlt sich wohl nur als solcher, ein Epsilon-Kuli ebenfalls, während ein Alpha für Führungspositionen prädestiniert ist. Nur Alphas? Derlei wurde versucht – und führte zu einer Katastrophe: Es gab Streiks, Aufstände, Kriege – niemand war mit seiner Position zufrieden und die wenigen Mächtigen mussten Angst haben vor den Untergebenen, die ihnen diese Macht streitig zu machen versuchten. Wie viel einfacher, das Menschenmaterial von vornherein so zu normen, dass Unzufriedenheit die absolute Ausnahme darstellt und die Beständigkeit des weltumfassenden Staates gewahrt bleibt (auch ein Alpha bleibt beschränkt: Forschung nach Neuem ist dort unerwünscht, wo der Status quo zum Ideal erklärt wird: Solche Individuen werden verbannt und dadurch unschädlich gemacht).
Über diese Teflon-Welt kann man natürlich nur schreiben, wenn es wenigstens ein paar Widerständige gibt, Menschen, die das Selbstverständliche in dieser seligmachenden Gemütlichkeit hinterfragen. Sigmund Marx ist so jemand, er, ein Alpha mit Minderwertigkeitskomplex (weil um 5 cm zu klein geraten und überhaupt vom Aussehen eher an einen Delta erinnernd) oder aber Helmholtz, in der Propagandaabteilung arbeitend und ahnend, dass es eine literarische Welt hinter jener der von ihm erzeugten Sinnsprüche gibt. Marx fährt mit Lenina Braun (Beta-Plus und als Sexualpartnerin sehr begehrt) in eine der wenigen Reservationen (Neu-Mexiko), die vom zivilisatorischen Furor verschont geblieben sind: Es sind Gegenden, bei denen sich eine Eingemeindung in den Weltstaat nicht lohnen würde. In dem Reservat treffen die beiden auf einen sich von den Eingeborenen unterscheidenden, blonden, jungen Mann und dessen Mutter, die vor mehr als 20 Jahren auf einer Exkursion verunglückte, von den Eingeborenen gerettet wurde, später aber wegen der Schande einer Geburt (Mutter ist in der neuen Welt ein Schimpfname, weil an alte, biologistische Muster erinnernd) dort geblieben ist. Beide werden in die Zivilisation mitgenommen, die Frau stirbt schon bald in einem alles besänftigenden Soma-Rausch, der junge Mann (stets als „Wilder“ apostrophiert) aber macht eine seltsame Karriere als von allen angestauntes Wunder.
Ihm wird alsbald die Brüchigkeit der ach so schönen Welt bewusst, er versucht sogar Delta-Arbeiter zum Aufstand zu bewegen (die ihn aber nur erstaunt anglotzen), verliebt sich in Lenina (die dem Absolutheitsanspruch des Wilden, ihr einziger Geliebter sein zu wollen, nur Unverständnis entgegenbringt) und endet schließlich – nach einer eingehenden Diskussion mit dem Weltratsmitglied Mustafa Mannesmann durch Selbstmord. – Im Grunde ist das alles sehr gut gemacht, die Charaktere nicht zu einseitig (Marx etwa ist keineswegs ein Revolutionär, sondern bloß jemand, der nach Anerkennung strebt), allerdings fällt die sinngebende Diskussion zwischen dem Wilden und dem Weltrat allzu moralisierend aus, wobei Huxley auch Opfer seiner metaphysisch-esoterischen Zivilisationskritik wird, die im Munde des Wilden zu einer etwas peinlichen Religionsapologetik verkommt. Das macht die Aussage des Buches platt und banal und verstellt die Sicht auf die über weite Teile berechtigte Kritik an der Moderne, ihrer Oberflächlichkeit und Substanzlosigkeit, die auf alle Probleme mit von Kindheit an erlernten Lebensweisheiten repliziert. Und genau solche Sentenzen produziert nicht nur dieser Staat mit seinen sedierenden Angeboten, sondern auch der Wilde, wenn er von der Notwendigkeit der Tränen, des Leidens und von Gott schwafelt.
Huxley hat in seinen späteren Büchern einer Art buddhistischem Mystizismus gehuldigt, mit bewusstseinsverändernden Substanzen experimentiert und wurde deshalb von der Hippiekultur vereinnahmt und zu einem ihrer Säulenheiligen. Dieser esoterische Schmonzes macht sein späteres Werk teilweise ungenießbar, die „neue, schöne Welt“ bleibt von solchen Exzessen glücklicherweise weitgehend verschont. Und so ist das Buch eine sehr hellsichtige Kritik an oberflächlichem Konsumwahn und leerer Spruchweisheit, auch wenn er die Gegenseite mit nicht minder einfältigen Kalenderweisheiten versorgt hat. Sollte man trotz allem gelesen haben.
Aldous Huxley: Schöne neue Welt. Frankfurt a. M.: Fischer 1953.