Stanisław Lem: Sterntagebücher

Lem für Neu-Einsteiger…

Tatsächlich würde ich, wenn mich jemand fragte, mit welchem Buch er oder sie in das riesige Universum der Lem’schen Schriften einsteigen solle, ohne zu zögern die Sterntagebücher des Ijon Tichy empfehlen. (Es hat mich nur bisher noch niemand gefragt.)

Ich halte Lem nicht nur für den witzigsten Autor von Science Fiction, sondern auch für den intelligentesten. (Ja, ich weiß, dass er nicht nur Science Fiction geschrieben hat und er sich gar nicht als SF-Autor sah.) Er ist originell und sprüht vor Ideen. Er steckt im Multi-Pack Gedanken in ein Buch, aus denen andere je einen ganzen Roman fabriziert hätten – und von der Grundlage her keinen schlechten. Es mag sein, dass ein Teil seiner Originalität darin liegt, dass Lem als Pole in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer Tradition schrieb – der des ‚realen Sozialismus‘ eines sowjetischen Vasallenstaats –, die wir im Westen zu wenig kannten. Die ich bis heute nicht kenne. Die beiden Strugatzkis jedenfalls schrieben zum Teil ähnlich, haben aber meiner Meinung nach die Brillianz Lems nie erreicht. Denn Lem ist nicht nur voller Phantasie – er kann seine phantastischen Elemente auch so gruppieren, dass sie auf den Leser logisch und kohärent wirken, was bei den Texten der Strugatzkis, die ich kenne, meiner Meinung nach nicht der Fall ist.

Die Sterntagebücher sind – mit einer Ausnahme – keine Tagebücher, auch keine fiktiven, sondern fiktive Reiseberichte über die fiktiven Reisen des fiktiven Reisenden Ijon Tichy in einer unbestimmten, fiktiven Zukunft – einer Zukunft, in der Reisen im Weltraum mehr oder weniger alltäglich geworden sind. Mit anderen Worten: Kurzgeschichten. Sie werden aber durch das Band zweier Vorworte eines ebenso fiktiven Herausgebers und Freundes Tichys, des Astrozoologen Prof. A. S. Tarantoga, zusammen gehalten und gelten deshalb als Roman.

Diese Geschichten einzeln oder im Ganzen zusammen zu fassen, ist praktisch unmöglich. Das würde ihre Pointe unwiederbringlich zerstören. Tichy ist ein Aufschneider, der in einem Ton, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, von Besuchen auf seltsamen Planeten erzählt, davon, wie er unser Weltall, das wir von der Physik nur auf Pump erhalten haben sollen, von dieser Schuld befreit, allerdings dann daran scheitert, die Entwicklung des Alls, der Erde und der Menschheit auf – wie er meint – bessere Grundlagen zu stellen. Auch ein zweiter Versuch, in einer anderen Geschichte, wird scheitern. In dieser Geschichte wird Tichy von sich selber mit einem Chronozykel, einer Maschine, die die Form eines Fahrrads hat, aber nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit transponiert, ins 27. Jahrhundert geholt, wo er Direktor eines Projekts werden soll, das die Fehler der Geschichte (inklusive die der Evolution) im Nachhinein korrigieren will. Auch dieses Projekt scheitert, nicht zuletzt daran, dass jeder Untergebene Tichys eigene Ideen hat, die er rücksichtslos und ohne beim Chef nachzufragen verwirklicht. So erzählt jedenfalls Tichy. Viele dieser Leute muss Tichy in die Vergangenheit verbannen – womit er zugleich erklärt, woher Leute wie Homer, Platon, Aristoteles, Roger Bacon oder da Vinci eigentlich stammen (Napoléon zum Beispiel war ursprünglich der Leiter der Geheimen Zeitpolizei, der MOIRA), und weshalb sei von Dingen erzählen oder Dinge malen, die zu ihrer Zeit kein Mensch kannte. Mit keinem hat Tichy das geringste Erbarmen – außer mit Spinoza, der für seinen Job leider viel zu sanft war. Nicht nur diese Geschichte, auch andere, wimmeln von Zeitschleifen, Verdoppelungen bis Verhundertfachungen des Ich-Erzählers, die immer eine je andere Lösung finden – eine abstruser als die andere. Auf der anderen Seite gibt es aber auch ernsthaftere Themen. So landet Tichy einmal auf einem Planeten, dessen einst humanoide Bewohner die Möglichkeit entdeckt hatten, sich Körperformen nach Belieben zu verschaffen, und die nun als Stühle, Kommoden und ähnliches durch die Welt gehen. Die originale Körperform des Menschen ist verpönt; Tichy wird vor dem sicheren Tod durch Lynch-Justiz durch eine Gruppe von Mönchen gerettet, die sich bei näherem Hinschauen als Roboter entpuppen, die aus einer vergangenen Epoche des Planeten stammen. Mit dem Prior dieser Roboter-Mönche führt Tichy eine durchaus ernsthafte Diskussion über die Problematik menschlicher Gestaltungsfreiheiten, Gott und die Welt. Andere Geschichten beschäftigen sich mit der Problematik der Seele, wenn diverse Erfinder versuchen, diese (man könnte auch sagen, den Geist oder den Intellekt eines Menschen) außerhalb des Körpers zu reproduzieren oder zu konservieren. Selbst die Schaffung neuer ‚denkender‘ Lebensformen wird thematisiert. In der zweiten Geschichte gar – das ist die Achte Reise – wird die Entwicklung der Menschheit darauf zurückgeführt, dass zwei stockbesoffene Hilfskräfte einer Expedition von extraterrestrischen Reisenden statt den Müll eines Picknicks zusammenzupacken und wieder mitzunehmen, ihn auf dem Planeten Erde liegen ließen. (Dies wird allerdings am Ende des Kapitels als Traum Tichys entlarvt.) Dass das zweite Kapitel bereits die achte Reise schildert, hängt übrigens, gemäß Tarantoga, damit zusammen, dass auf Grund diverser Zeitschleifen, in die Tichy geraten ist, es nie eine erste gegeben hat, nie eine geben wird. Welche immer die erste zu sein scheint: Es kann, wenn Tichy mal wieder in der Zeit reist, immer eine geben, die plötzlich früher war als die erste. Auch die Überlieferung der Geschichten ist an der seltsamen Zählung schuld: Es sind nicht alle Manuskripte Tichys auf die Nachwelt gekommen. (Ob Tichy nun noch lebt oder gar nie gelebt hat, ist übrigens gemäß Herausgeber Tarantoga ebenfalls unsicher: Er hat als Direktor des Instituts für geschichtliche Verbesserungen im Nachhinein die Entdeckung der Zeitreisen wieder zugedeckt, und damit sich selber im 27. Jahrhundert annihiliert.)

Lem kennt oder zitiert viele: Llull ebenso wie Swift, Newton, Leibniz; Einstein, Heisenberg oder Feyman. Selbst die Tücke des Objekts und den darunter leidenden Menschen schildert er ganz so, als ob er Vischers Roman Auch Einer kennen würde. Und ganz sicher kannte Lem das große Vorbild des Ijon Tichy: den Baron Münchhausen.

Witzig also, durch die Kürze der Geschichten auch nicht ermüdend – dennoch viel Stoff zum Nachdenken liefernd, so man nachdenken will. Ich kann, wie gesagt, die Sterntagebücher nur empfehlen.


Gelesen in folgender Ausgabe:

Stanisław Lem: Sterntagebücher. Mit Zeichnungen des Autors [die als Zeichnungen Ijon Tichys ausgegeben werden, und auch in der Übersetzung ihre original-polnische handschriftliche Beschriftung behalten haben]. Aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz [ursprünglich erschienen im Verlag Volk und Welt, Berlin, DDR]. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 43.-62. Tausend, 1980. (= suhrkamp taschenbuch 459 / Phantastische Bibliothek, Band 20)

2 Replies to “Stanisław Lem: Sterntagebücher”

  1. Vielen Dank für die kluge Besprechung der „Sterntagebücher“. Lem wird ja oft unterschätzt oder auf „Solaris“ reduziert.
    Die im Forum gesuchte Fortsetzung der „Sterntagebücher“ (genauer der 14ten Reise) ist „Lokaltermin“ und beginnt in der Schweiz.

    Gruß
    Kuno

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