Mit der Critik [sic!] der reinen Vernunft betritt Kant nicht nur für sein eigenes Denken Neuland, sondern für die Philosophie als Ganzes. Runde 10 Jahre hat er nichts Größeres mehr veröffentlicht, sondern für sich versucht, den Rationalismus Leibniz-Wolff’scher, aber auch cartesischer Ausprägung zu vereinbaren mit dem Empirismus David Humes. In ersterem war Kant in Königsberg sozusagen philosophisch aufgewachsen; letzterer hatte ihn aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt. Bei Hume hatte er erfahren, wie viel Descartes oder Leibniz auch und gerade dann in ihrer Philosophie voraussetzten, wenn sie angaben, voraussetzungslos die letzten Gründe des Seins zu erforschen. Dennoch befriedigte ihn auch Humes Philosophie nicht; sie ließ Lücken zwischen der eigentlichen Erfahrung und dem, was „der Mensch“ daraus macht. Letztlich ist Kants Transzendentalphilosophie nichts anderes als der Versuch, aufzuweisen, dass das menschliche Erkenntnisvermögen zwar auf Sinnesdaten angewiesen ist, diese aber nicht die ganze Erkenntnis sein können, weil die Vernunft a priori Erkenntnisformen an die empirischen Daten heranträgt, um sie überhaupt verarbeiten zu können. So wird zum Beispiel die zeitliche Aufeinanderfolge, die für Hume der Auslöser dafür war, wie das Erkenntnisvermögen auf eine Ursache-Wirkungs-Folge schloss, für Kant problematisch:
Da aber Erfahrung ein Erkenntnis der Objekte durch Wahrnehmungen ist, folglich das Verhältnis im Dasein des Mannigfaltigen, nicht wie es in der Zeit zusammengestellt wird, sondern wie es objektiv in der Zeit ist, in ihr vorgestellt werden soll, die Zeit selbst aber nicht wahrgenommen werden kann, so kann die Bestimmung der Existenz der Objekte in der Zeit nur durch ihre Verbindung in der Zeit überhaupt, mithin nur durch a priori verknüpfende Begriffe, geschehen. Da diese nun jederzeit zugleich Notwendigkeit bei sich führen, so ist Erfahrung nur durch eine Vorstellung der notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich.
(B219)
Das ist in nuce Kants berühmtes „Ding an sich“ – will sagen, der Umstand, dass wir „die Welt“ immer nur mittels der uns von der Vernunft vorgegebenen Kategorien „sehen“ und interpretieren. Heinrich von Kleist zog daraus den irrigen Schluss, dass wir Leute seien, die grüne Brillengläser tragen und deshalb alles nur grün sehen – was seine depressive Grundstimmung nicht aufhellte. Die Kritik der reinen Vernunft erklärt allerdings nur, dass Fragen nach der Beschaffenheit des „Dings an sich“ unsinnig sind (nonsense, wie Kant sagt). Das geschieht vor allem in den Abschnitten zu den Antinomien der Vernunft, in denen Kant zum Schluss den antiken Philosophen Zenon von Elea vom Vorwurf Platons befreit, ein sinnloses Zeug brabbelnder Sophist gewesen zu sein, da er im Gegenteil mit seinen Paradoxen auf die Ungereimtheit gewisser kosmologischer Fragen hingewiesen habe (wie z.B. der, ob das Universum in Zeit und Raum endlich oder unendlich sei). Andererseits erklärt Kant durch sein System auch einen transzendentalen Skeptizismus (und nur einen solchen!) gerechtfertigt, weil eben solche Fragen im Prinzip unbeantwortbar sind. (Wittgenstein würde später daraus den Schluss ziehen: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, und damit noch rigoroser argumentieren als der alte Kant. Beide aber stimmen dahingehend überein, dass sie – zumindest eine Zeitlang – der Meinung waren, mit ihren Systemen alle philosophischen Probleme gelöst zu haben.)
Ähnlich wird auch das Problem der Willensfreiheit (und damit der moralischen Verantwortung des Menschen für sein Tun) gelöst: Transzendental gesehen existiert eine Kette von Kausalzusammenhängen, herrscht also blanker Determinismus. Aber für die Vernunft gilt dies nicht, weil sie dies nicht nachvollziehen kann – sie geht davon aus, dass eine Handlung aus heiterem Himmel „beschlossen“ werden kann, das handelnde Subjekt demnach dafür verantwortlich ist. Last but not least: die Problematik der Existenz Gottes. Die Vernunft postuliert sie in transzendentaler Hinsicht; sie kann sie aber nicht beweisen. (Und das war es wohl vor allem, warum Moses Mendelssohn von Kant als dem Alleszermalmer geredet hat: Der Mensch kann wohl an Gott glauben, seiner Existenz sicher sein kann er nicht. Die protestantische Theologie, unter der Federführung des Idealisten Schleiermacher, hat Gott sehr rasch zur Sache des Glaubens und des Gefühls gemacht; die katholische Kirche folgte ihr erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.) Kant selber meinte lakonisch:
Dieses Ideal des allerrealsten Wesens wird also, ob es zwar eine bloße Vorstellung ist, zuerst realisiert, d.i. zum Objekt gemacht, darauf hypostasiert, endlich, durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft zur Vollendung der Einheit, so gar personifiziert […]
(B612 / A584, Anmerkung)
In der Folge verwirft Kant sämtliche Gottesbeweise, den ontologischen, den kosmologischen und den physikotheologischen – und damit auch den, den er selber noch 1763 in seiner Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes vorgebracht hat. Das will nicht bedeuten, dass er die Existenz Gottes leugnet. Allerdings auch nicht, dass er sie als beweisbar ansieht. Gott ist seiner Ansicht nach eine Idee (im ursprünglich platonischen Sinne), ein regulatives Prinzip der Vernunft, nicht konstitutiver Teil der Welt. Will sagen: Alles deutet für Kant darauf hin, dass unserer Vernunft eine Existenz Gottes zu Grunde liegt. Wir können diese nicht beweisen, handeln aber gemäß Kant jederzeit so, als ob dieses regulative Prinzip ein konstitutives wäre. Kant nennt das Deismus; er setzt aber auch in einem Satz Gott und die Natur gleich, und man könnte wohl (zumindest für diese Stelle) auch den Begriff des Pantheismus dafür einsetzen.
Schon fast nebenbei und ganz zum Schluss hält Kant fest, dass die Mathematik mit ihrer Methode dem Wissen nichts Neues hinzufügt, da sie nur analytisch arbeitet und nicht synthetisch. Wir kennen in der heutigen Philosophie diese Aussage von der Logik. (Logik war allerdings zu Kants Zeit – da immer noch auf dem Organon des Aristoteles basierend mit ihren verschiedenen Formen des Schließens – noch nicht die mehr oder minder mathematische Lehre, die sie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist.)
Solche transzendentalen Probleme werden in der Kritik der reinen Vernunft untersucht – mit der Nebenerscheinung, dass mit diesem Buch Kant nebenbei auch aus der Philosophie, die bisher auch an Universitäten gern von Quereinsteigern gelehrt wurde, eine Spezialdisziplin gemacht hat, die letztlich nur der verstehen kann, der sie von Grund auf studiert hat. Bisher war das breitere Publikum allenfalls von philosophischen Überlegungen ausgeschlossen gewesen, weil es des Lateinischen nicht mächtig war. (Latein war noch bis weit ins 19. Jahrhundert die lingua franca der Gelehrten, in der wissenschaftliche Texte aller Disziplinen verfasst wurde.) Descartes zum Beispiel, aber auch zu einem gewissen Grad Leibniz, pflegten deshalb Schriften für ein breites Publikum auf Französisch, Schriften für die Gelehrten auf Latein zu verfassen – und zumindest ersterer hat mit der Wahl der Sprache immer auch bewusst das Laienpublikum von gewissen Diskussionen auszuschließen versucht. Aber dennoch: Im Großen und Ganzen fand man in den Schriften fürs breitere Publikum dieselben Argumente, dieselben Sätze, dieselben Problemstellungen, wie in den gelehrten Publikationen. Mit Kant änderte sich dies. Zwar schrieb er schon seit längerem seine Texte auf Deutsch; aber mit der Kritik begab er sich zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie in ein Gebiet, das dem Laienpublikum nicht ohne weiteres zugänglich war – und es gab (zumindest von Kant persönlich) keine leicht fasslichen Einführungen für den Laien (oder auch nur für den jungen Studiosus der Philosophie). Mit Kant wurde die Philosophie endgültig zu einer Disziplin für Leute, die Zeit und Hirnschmalz in ihre Lektüre investieren wollten und konnten. Die Zeit der Laienphilosophen, auch der Philosophen auf dem Thron im Stile eines Marc Aurel oder Friedrichs des Großen, war mit ihm vorbei. Man kann das bedauern; und es wird auch immer wieder versucht, es rückgängig zu machen.
Nun sind zum Glück für das Laienpublikum noch nicht alle Teile der Kritik der reinen Vernunft gleichermaßen unzugänglich. Wer sich einen allgemeinen Überblick über Kants neue Philosophie verschaffen möchte, kann zum Beispiel die Einleitung zu Beginn der Fassung der zweiten Auflage lesen, vielleicht noch zusammen mit der transzendentalen Ästhetik, die die Grundlagen der nachfolgenden Erörterungen bieten – also bis Seite B73. (Ästhetik hier noch explizit im älteren Wortgebrauch des Erkenntnisvermögens der ‚unteren‘ Sinne – will sagen der nicht klassifizierenden Vernunft!) Schon in der darauf folgenden transzendentalen Logik verfällt Kant dann in die sich durch die ganze Kritik hindurch ziehende Sucht, logische Funktionen in Tafeln zu präsentieren, wo er diese in (meist) vier Obergruppen unterteilt, von denen jede Obergruppe in drei Untergruppen gesplittet wird. Das bringt oft keinerlei Erkenntniszuwachs, weil um der Symmetrie willen Untergruppen gebildet werden, die wenig Sinn ergeben.
Es gibt von der Kritik der reinen Vernunft bekanntlich zwei Auflagen: eine erste, 1781 erschienene, die zunächst wenig Resonanz im Publikum fand (Moses Mendelssohn meinte nur, es handle sich hier um ein Nervensaft zehrendes Werk, womit er zugleich den Ruhm der Kritik als schwer verständliches Buch begründete – nicht ganz zu Unrecht allerdings), und die zweite von 1787, mit der das Buch seinen Ruhm gewannd und die heute meist zitiert wird, in der Kant auch seine Aussagen aus der ersten Auflage zum Teil korrigiert, zum Teil ergänzt und zum Teil ausführlicher dargestellt hat. Dennoch sollten, wenn möglich, immer beide Auflagen konsultiert werden – nicht nur, weil wir so die Entwicklung in Kants Denken nachvollziehen können, sondern auch, weil gewisse Filiationen in der Philosophie (des deutschen Idealismus) an Hand der ersten Auflage leichter nachvollziehbar sind. So ist der Ansatzpunkt von Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) mit seinem Ich, welches das Nicht-Ich setzt an Hand ähnlicher Formulierungen in der transzendentalen Analytik (A117ff) von bloßem Auge zu erkennen. Die nach 1790 erschienenen späteren Auflagen sind hingegen für die weitere Entwicklung von Kants Transzendentalphilosophie irrelevant. (Kleines Kuriosum am Rande: Die Kritik der reinen Vernunft schaffte es 1827 auf den Index librorum prohibitorum der katholischen Kirche. Das hat auch katholische Philosophen allerdings nie gehindert, das Werk zu lesen und für sich und ihr Denken auszuwerten.)
Ist die Kritik der reinen Vernunft lesenswert? Diese Frage stellt sich meiner Meinung nach gar nicht. Dieses Buch gehört zu den 20 oder 50 Büchern, die jeder Mensch gelesen haben sollte, für den Denken mehr ist, als die Frage, in welcher Bar er heute Abend sein Feierabendbierchen trinken soll. (Nicht, dass ich diese Frage für völlig unwichtig hielte …)