Rund um den Tell ranken sich so einige Anekdoten. Ich meine jetzt nicht den historischen Tell. So einer konnte bis heute nicht nachgewiesen werden – weder in der Innerschweiz, noch sonst wo. Selbst als Familienname ist er hierzulande ansonsten unbekannt. Der Meisterschütze, der von seinem Herrn gezwungen wird, seinem Kind ein Objekt vom Kopf zu schießen, existiert zwar – zumindest literarisch. Er hieß, bevor ihn die Schweizer als „Tell“ adoptierten, Toko und ist in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus zu finden. Ergo ein Däne. Ob Schiller den Saxo gekannt hat oder nur die Chroniken und Legenden des Schweizers Ägidius Tschudi und anderer, die ihrerseits Saxo ausgeschrieben haben, spielt dabei keine Rolle. Selbst der Umstand, dass der väterliche Schütze einen zweiten Pfeil bereit legt, mit dem er den Tyrannen erschießen will, falls der Kunstschuss auf den Apfel (bzw. im Original die Münze) schief läuft, ist schon bei Toko zu finden.
Aber nicht die historischen Anekdoten meine ich. Sondern die zum Beispiel, in der Schiller davon erzählt, dass eine Zeitlang in Weimar das Gerücht umging, er sei daran einen Wilhelm Tell zu schreiben. Erst dieses Gerücht – so Schiller – habe aber sein Interesse am Stoff geweckt und ihn zum Tell geführt. Der andere Dioskure der deutschen Klassik, Goethe, würde wiederum Jahre später gegenüber Eckermann behaupten, er habe Schillers Interesse am Stoff geweckt, indem er ihm davon erzählt habe und ihm dann den Stoff (aus dem er, Goethe, selber ein Epos stricken wollte) zur Verwendung überlassen. So seien auch alle Beschreibungen der Schweizer Landschaft um den Vierwaldstättersee von ihm. Wie weit sich da Goethe selber getäuscht hat, wie weit er bewusst Eckermann in die Irre führte, bleibe dahin gestellt.
Wir wissen seit geraumer Zeit, dass Schiller neben Goethe noch andere Quellen benutzte: Was die historische Ausgangslage des Tell angeht, ist neben Tschudis Chronicon Helveticum vor allem die zu jener Zeit als Standardwerk zum Thema geltenden Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft des Freundes Johannes Müller zu erwähnen. Schiller stattet ihm im Stück selber Dank ab, indem er die Kunde von der Ermordung des habsburgischen Königs Albrecht durch seinen Neffen Johann von Schwaben (Johannes Parricida) von einem vertrauenswürdigen Schaffhauser namens Johannes Müller in die Innerschweiz tragen lässt. Aber Schiller kannte auch Belletristik zum Thema, so einige der bereits existierenden Dramatisierungen des Stoffes, vor allem durch Schweizer Autoren natürlich. (Der bekannteste darunter – nicht unbedingt allerdings das bekannteste Stück – war Bodmer.)
Bei den Naturschilderungen – und es gibt deren im Stück viele! –, die Goethe für sich reklamierte, griff Schiller ebenfalls eher auf Sekundärliteratur zurück als auf mündliche Erzählungen seines Freundes. So lassen sich ganze Sätze der Schiller’schen Bühnenanweisungen in Johann Jakob Scheuchzers Natur-Geschichten des Schweizerlandes nachweisen.
Wilhelm Tell ist das Werk eines Intellektuellen, eines Büchermenschen. Deshalb wird es vielleicht erstaunen, dass es sich schon bei seiner Erstaufführung als Volksstück entpuppte. Jedenfalls in Weimar. (In Berlin wurde die geplante Uraufführung verboten; die dortige Zensur fand ein paar allzu aufrührerische Stellen in den Dialogen der Innerschweizer Bauern. Der Herzog von Weimar war offenbar weniger empfindlich.) Jedenfalls in Weimar, sagte ich – in der Schweiz musste sich das Stück noch bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts gedulden, um zum Nationaldrama zu werden. (Die von Napoléon oktroyierte und deshalb im Volk verhasste Helvetische Republik führte in einem augenscheinlich missglückten Versuch der Anbiederung die Szene des Tell’schen Apfelschusses im Wappen – Tell galt so in der Schweiz noch lange als Figur Napoléons.)
Das Stück als solches ist wohl allseits bekannt. Schiller zeigt sich auch im Wilhelm Tell als Meister der Sentenz – es gibt nur wenige Autoren, aus deren Werken so viele Sätze zu sprichwörtlichen Redensarten geworden sind, wie dies bei Schiller der Fall ist. Natürlich findet man denn auch im Tell so einige. Dem Historiker Schiller ist es – so weit dies auf der Bühne machbar ist – sehr gut gelungen, die politische Lage der Innerschweizer am Anfang des 14. Jahrhunderts zu beschreiben, wo Uri, Schwyz und Unterwalden im Streit um die Macht im Deutschen Reich aufgerieben werden zu drohten zwischen dem österreichischen König und habsburgischen Grafen einerseits, dem Kaiser andererseits. Die Schweizer berufen sich auf eine alte Reichsfreiheit; die Habsburger wollen sie endgültig ihrer Hausmacht zuweisen. Es gibt im Volk beide Strömungen – die, welche sich ans Reich halten wollen, und die Realpolitiker, die die bestehende Macht Österreichs anerkennen wollen. Den Ausschlag zur Revolte gibt ausgerechnet eine Frau – Gertrud Stauffacher.
Tell seinerseits ist ein Einzelgänger. Im Grunde seines Wesens wohl ein apolitischer Mensch, wird er durch die tyrannischen Maßnahmen des österreichischen Landvogts Gessler ihm persönlich gegenüber in die ebenso persönliche Revolte getrieben. Dass er dem Landvogt einen Hinterhalt bereitet und ihn erschießt, ist in Schillers Darstellung Notwehr eines einzelnen. Tell spricht sich denn auch nicht ab mit den zur Revolte bereiten Bauern von Uri, Schwyz und Unterwalden. Das Drama um Tell und Gessler läuft unabhängig und parallel ab zur Innerschweizer Revolte – auch wenn nur beides zusammen, die Revolte und Tells Schuss auf Gessler, zum Ziel der Freiheit führt. Wenn Schiller also die Notwendigkeit einer Revolution einräumt, so wird er doch die wichtige Rolle des einzelnen, sich aus der Masse Heraushebenden betonen. Schiller war Idealist; ihm war das Ich auch in der Revolte wichtig. Schiller war aber auch Realist genug, um zu wissen, dass eine Revolte nur mit Hilfe der großen Masse gelingen kann. Insofern waren für ihn die mit ihrer Scholle so eng verbundenen Eidgenossen des 14. Jahrhunderts ein politisches Ideal. (Weshalb es wichtig und unumgänglich ist, dass zum Schluss des Dramas der Mörder Albrechts, Johannes von Schwaben, mit Tell konfrontiert wird. Nicht nur als Parricida, als Verwandtenmörder, hat dieser gegen göttliche Satzungen verstoßen; er hat es auch und vor allem getan, weil bei ihm keine Notwehr vorlag wie bei Tell, sondern weil sein Tatmotiv irdischer Ehrgeiz war: Darfst Du der Ehrsucht blutge Schuld vermengen | mit der gerechten Notwehr eines Vaters?, fragt ihn Tell und verweist ihn an den Papst als einzige Instanz, die ihm allenfalls die Schuld lösen könne.)
Heute? Nachdem Wilhelm Tell seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und bis in die 1960er das in fast allen Schichten akzeptierte Sinnbild des Schweizer Widerstands gegen eine Vereinnahmung von außen war und gerade zur Zeit des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle spielte, wurde im Nachgang der 68er Bewegung die Figur „Tell“ von linken Autoren – allen voran Max Frisch mit seinem Wilhelm Tell für die Schule – komplett demontiert. Lange schien er tot, allenfalls ein Symbol der konservativen Rechten, die immer wieder die fremden Vögte heraufbeschworen, wenn es darum ging, eine Öffnung der Schweiz gegenüber internationalen Regeln zu verhindern. Doch seit einiger Zeit ziehen vor allem Freilichtaufführungen von Laien des Tell (mehr oder weniger nach Schiller; um diesen Tell kommt man nicht mehr herum, er ist unterdessen kanonisch) – ziehen solche Aufführungen wieder vermehrt Publikum an. Tell ist zum Volksfest geworden; seine politischen Implikationen, die über Jahre aufgebaut wurden, werden ad acta gelegt. Das kann dem Stück nur gut tun.