Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. [1785:] Zweiter Teil

Großaufnahme einer grauen Gewebestruktur (= Leineneinband der gelesenen Ausgabe).

Nachdem Herder im ersten Teil seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zunächst die Erde als Stern unter Sternen verortet, danach deren physische Beschaffenheit (so lautet eine Kapitelüberschrift: Der Planet, den wir bewohnen, ist ein Erdgebürge, das über die Wasserfläche hervorragt.) näher skizziert hat, lässt er die Organisation (will sagen: die Physiologie) von Pflanzen, Tier und Mensch folgen, bis er dann den Menschen, im Gegensatz zu den Tieren, eine Vernunftfähigkeit attestieren kann, die diesen Menschen schlussendlich befähigt, ein Mittelglied zweener Welten (nämlich der irdischen und der himmlischen) darzustellen. Herder präsentiert soweit also im Großen und Ganzen ein aufsteigendes, teleologisches Weltbild präsentiert. Nun geht er im zweiten Teil – durchaus mit einiger inhärenter Logik und Stringenz – dazu über, den Menschen als soziales Wesen zu schildern.

Zunächst allerdings setzt er ein mit einer Beschreibung der Organisation der Völker in ihren heimischen Regionen. Hier meint er mit Organisation vor allem das Äußere des Menschen – seine Gesichtszüge, sein Körperbau, ja er wirft sogar ein spezielles Augenmerk auf seine Geschlechtsorgane. Aber auch die Seele passt sich Herders Meinung nach dem Klima an. Zunächst unterscheidet der Autor die Völker nach geografischer Lage, bringt dann diese in Verbindung mit dem lokalen Klima. Herder hat offenbar seinen Montesquieu gelesen, auch wenn es ihm nicht um den Geist der Gesetze geht, sondern um ethnologisch-anthropologische Grundkonstanten menschlichen Seins und deren Abwandlung (aber weder Vernichtung noch Neuschöpfung!) durch äußere Einflüsse. Er vertritt die Ansicht, dass Hautfarbe, Gesichtszüge oder Körpergröße nicht Merkmale verschiedener Rassen sind (er wendet sich explizit gegen die Anwendung des Begriffs Rasse auf den Menschen und beklagt auch die zu seiner Zeit weit verbreitete Ausübung der Versklavung der Schwarzen und der Indianer!), sondern einfache Anpassungen des menschlichen Körpers an seine Umgebung. Während er so an (zumindest Lamarck’sche) Grundsätze der Evolutionstheorie tippt, verwahrt er sich in einem folgenden Kapitel ganz klar gegen den Gedanken, der Mensch könnte vom Affen abstammen oder es gäbe gar – wie damals noch von Reisenden kolportiert – auf fernen Inseln Lebens- und Sexualgemeinschaften von Affen und Menschen.

Hat er für die bisherigen Ausführungen nicht nur aus Reisenden wie Cook, den beiden Forster oder Pallas zitiert, sondern auch aus Montesquieu, wird er nun im Übergang zum Menschen als sozialem Wesen – denn das ist der nächste logische Schritt in seiner Geschichte – sich zwar gegen den Gedanken wehren, der Urzustand des Menschen sei ein Kampf aller gegen alle gewesen, die entsprechenden politischen Philosophen (Thomas Hobbes!) aber mit Schweigen übergehen. Für Herder ist Kooperation zwischen Menschen nicht nur notwendig zur Entwicklung von so etwas wie Kultur, sie ist im eigentlichen Sinne (Über-)Lebensnotwendigkeit. Kooperation wiederum bedeutet Kommunikation, bedeutet Sprache. Er zeigt sich dabei nicht nur als überzeugten Nominalisten, sondern streift auch an Kants Erkenntnistheorie:

Keine Sprache druckt [sic!] Sachen aus, sondern nur Namen: auch keine menschliche Vernunft also erkennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ihnen, die sie mit Worten bezeichnet; eine demüthigende Bemerkung, die der ganzen Geschichte unseres Verstandes enge Grenzen und eine sehr unwesenhafte Gestalt giebt.

Durch Kommunikation, durch Sprache organisiert der Mensch seine Gemeinschaft: die Familie (wo sich Herder kurz dabei aufhält, dass in den meisten bekannten Gemeinschaften rund um den Globus der Mann die Frau unterdrückt und zur Hausarbeit zwingt). Kommunikation generiert auch Tradition, wodurch einmal festgestellte Ordnungen zu Regierung werden. (Hier stellt sich Herder abermals gegen die etablierte politische Philosophie, indem er abstreitet, dass die altehrwürdige Einteilung der Regierungsformen den tatsächlichen, immer wieder unterschiedlichen Gegebenheiten konform zu werden in der Lage ist.

So weit vermag ich Herder zu folgen. Nun aber unternimmt er einen meiner Meinung nach ziemlich diskutablen Schritt ins Abseits: Aus der Tradition folgt für ihn nämlich unmittelbar die – Religion. (Oder, wie er es in einer Kapitelüberschrift formuliert: Religion ist die älteste und heiligste Tradition der Erde.) Es gibt wohl tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Religion und Organisation des Zusammenlebens vieler Menschen, aber Herders Ansatz ist nun definitiv der eines Theologen. Eines christlichen Theologen sogar. Wohl referiert er zu Beginn noch verschiedene Schöpfungsmythen oder Darstellungen einer Sintflut, aber die letzten drei Kapitel des zehnten Buchs (und damit der Schluss des zweiten Teils) sind ausschließlich der ältesten Schrifttradition über den Anfang der Menschengeschichte gewidmet. Gemeint ist natürlich das Buch Genesis des Alten Testaments. Damit nun verliert mich Herder, auch wenn er teilweise versucht, rationale Begründungen und Zusammenhänge darzustellen. Dieser Schluss – und eigentlich das ganze zehnte Kapitel – bildet einen Fremdkörper in der bis dahin von theologischem Kram verblüffend frei gehaltenen Darstellung.

Je nun.

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