Friedrich Maximilian Klinger: Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt

Als ich den Namen des Autors und den Titel dieses Romans zum ersten Mal las, war mein erster Gedanke: Das klingt nach Sturm und Drang! Das Erscheinungsjahr allerdings ließ mich stutzen: 1791. 1791 war der Sturm und Drang schon tot; selbst der Nachzügler Schiller hatte 1787 mit Dom Karlos das letzte seiner zu dieser Epoche zählbaren Dramen abgeliefert. Die ursprüngliche Gruppe um Johann Wolfgang Goethe hatte sich schon länger zerstreut. Lenz irrte gerade noch in Russland herum, verarmt und von Schüben seiner Geisteskrankheit geplagt. (Er sollte im folgenden Jahr sterben.) Goethe hatte sich bereits in Weimar niedergelassen und werkelte an der Iphigenie. Mit andern Worten: Er war auf dem Weg zu jener Epoche seines Schaffens, die man heute „Weimarer Klassik“ nennt. (Auch wenn er 1791 wohl eher überhaupt den Wegweiser dorthin suchte.) Seinen Faust hatte er wohl mit nach Weimar genommen, wohl auch dem Zirkel um Anna Amalia daraus vorgelesen – danach aber verschwand der in den untersten Schubladen seines Schreibtisches und wenn nicht Luise von Göchhausen eine Abschrift davon genommen hätte, wüssten wir heute nicht einmal, wie diese Version in etwa ausgesehen hatte.

Klinger selber aber war seit einiger Zeit in russischen Diensten. Er hatte bereits Denis Diderots Manuskript jenes satirischen Romans, der dann Rameaus Neffe heißen sollte, an Schiller und Goethe in Weimar geschickt. Im selben Jahr, in dem Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt erschien, wurde er zum Major befördert. Major in russischen Diensten und Sturm und Drang – nein, das geht wohl nicht. In welche Richtung aber konnte sich Klinger entwickeln? Er war zu wenig originell, um sich wirklich „vorwärts“ entwickeln zu können – sprich: Sowohl die Weimarer Klassik wie die Romantik waren ihm unzugänglich, vom Intellekt her, wie vom ganzen Naturell. Es blieb ihm also nur der Weg „zurück“. Nämlich zurück zur Aufklärung.

Nun war es nie so, dass der Sturm und Drang in seinem ganzen Aufbegehren gegen Traditionen und Sitten völlig Neues und Revolutionäres forderte, und diese Epoche als Frühform der Romantik anzusetzen, ist zumindest einseitig, denn es findet sich – gerade in dem Aufbegehren des Individuums – viel Aufklärerisches darin. Die Aufklärung war ja, politisch-soziologisch betrachtet, eine Bewegung des Bürgertums, das sich gegen die monarchischen Strukturen auflehnte, die ihm nicht nur ökonomisch, sondern auch ideell vorzuschreiben suchten, was zu denken oder zu fühlen er hatte. Und vor allem: was nicht. Doch während das Bürgertum in Großbritannien und teilweise auch in Frankreich ökonomisch in der Lage war, es mit dem König und dem Adel aufnehmen zu können, fehlte dem deutschen Bürger die ökonomische Grundlage. Wo die britische Aufklärung schon früh Reformen im Staat bewirkt hatte, und die französische in einer Revolution münden sollte, war die deutsche zur Theorie verdammt. Schiller, an Kant geschult, zeigte den deutschen Weg vor: Dieser sollte über die Ästhetik gehen, über die Kunst. Doch Über Anmut und Würde erschien erst 1793, Über die ästhetische Erziehung des Menschen gar 1795. Als Klinger 1790/91 seinen Faust verfasste, konnte er noch nichts davon wissen.

So kommt es, dass er tatsächlich „zurück“ ging. Sein spätaufklärerischer Roman Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt stellt deshalb in vielem einen Rückgriff dar auf die satirischen Romane der (französischen) Frühaufklärung: Montesquieus Lettres persanes und Voltaires Candide sind da an erster Stelle zu nennen. Leider verfügt Klinger nicht über die feine Klinge (man verzeihe mir das schlechte Wortspiel) der Franzosen oder auch Wielands mit seinen Staatsromanen. Man fühlt immer wieder, dass Klinger seinen Weg (noch?) sucht. Tatsächlich sind die ersten beiden (von deren fünf) Bücher sehr stark dem Sturm und Drang verhaftet: Faust hat den Buchdruck erfunden, kann aber nicht von seiner Erfindung leben. Wir haben in ihm zu Beginn das typische (verkannte) Genie des Sturm und Drang – des Genies, das nun den Teufel herausfordert. Dies in durchaus guter Absicht, denn Faust will seinem Widersacher beweisen, dass es auf dieser Welt Menschen gibt, die von sich aus gut sind. Konsequente Komposition scheint Klingers Stärke aber nicht zu sein: In den folgenden beiden Büchern driftet die Geschichte gänzlich von diesem Thema weg, um auch nicht mehr dahin zurück zu kehren. Faust wird mehr und mehr zum passiven Zuschauer, den der Teufel – er heißt übrigens bei Klinger Leviathan (ich weiß nicht, ob nur in Anlehnung an das biblische Ungeheuer, oder ob ihm da auch irgendwie der gesellschaftstheoretische Leviathan von Thomas Hobbes im Kopf spukte; möglich wäre es, denn die Obrigkeiten, die Klinger schildert, sind allesamt welche, die einer Revolution würdig wären; aber Revolution darf nach Hobbes nicht sein) – Faust der passive Zuschauer, wollte ich sagen, den der Teufel von einem Ort zum nächsten mitschleppt: zunächst von Mainz, Fausts Heimat, nach Frankfurt am Main (Klingers Heimat!) und Köln, wo sich die Geschichte meist noch satirisch um den hohen Klerus und um Nonnen und Mönche dreht. Sie reisen dann über London nach Paris, wo nun Kritik am Staat bzw. den Herrschenden geübt wird, indem die französischen Zustände unter Louis XI, also zu Beginn jener Epoche, die man später „Absolutismus“ nennen sollte, in grellsten und schlimmsten Farben gemalt werden. (Wie überhaupt Klinger ab hier immer wieder den Beginn einer Entwicklung schildert und damit natürlich deren Ende oder Entartung in seiner eigenen Zeit meint – bis hin zur Französischen Revolution.) Mailand, Florenz und dann Rom unter dem Papst Alexander VI. sind die nächsten logischen Schritte, da in Rom geistliche und weltliche Herrschaft in eines fallen. Mehr und mehr aber wird Faust zum reinen (und damit erzähltechnisch natürlich überflüssigen) Zeugen von Gräueltaten und Verfehlungen absoluter Herrscher. Klinger schiebt ihn auf ein Nebengeleise (wenn der Anachronismus erlaubt ist). Er erwähnt ihn nur mehr am Rande, berichtet lakonisch, dass sich Faust an allen erreichbaren Frauen der besseren Gesellschaft gütlich tat, ohne dass dies die Handlung weiter triebe. Ja, Faust hört gar auf, sich noch über die stattfindenden Intrigen, Morde und sexuellen Perversionen zu entsetzen. Bei Alexander VI. wird es nicht dann auch nicht er sein, der zu Beginn noch den einen oder andern Bösewicht vom Teufel umbringen ließ, sondern es wird dem Teufel höchstpersönlich, Leviathan, zu viel, und er bringt den Papst aus eigenem Antrieb, sogar im Affekt, um – und dessen Tochter Lucretia Borgia gleich mit.

Allerdings muss Klinger zu Gute gehalten werden, dass wohl nur mit einer Mischung von Sturm und Drang einerseits, aufklärerischen Gedanken andererseits, ein Faust-Roman überhaupt möglich war. Lessings D. Faust blieb unvollendet – was bei einer Geschichte, in der dem Protagonisten die Rettung vor der Hölle schon von Anfang an versichert wurde (weil, wer wissen will, von einem Aufklärer nicht verdammt werden kann), nicht verwundern sollte. Den dem Sturm und Drang verpflichteten Urfaust hingegen konnte selbst ein Goethe erst nach langer kreativer Pause beenden, und auch dann nur, indem er die Geschichte mit der Entwicklung des Gretchen-Motivs und dem bereits geplanten zweiten Teil in völlig andere Bahnen brachte. Goethes Ausweg aus dem Genie-Dilemma stand Klinger nicht offen – indem er den Sturm und Drang zurück führte zur Aufklärung, tat er, was er zu tun vermochte.

Das holpert dann leider allerorten. Dass Faust zum Beispiel zum Schluss doch zur Hölle fährt, ist wieder Teil einer bemühten Konstruktion. Er soll es nämlich gewesen sein, der gewünscht hatte, an den Höfen der Hohen und Höchsten zu sein, und der darüber die tatsächlich leidende Bevölkerung, die Armen und die Ärmsten, völlig vergessen habe – die eigene Familie inklusive. So, wie dem Autor überhaupt die Szenen in der Hölle am besten gelungen sind – unvergesslich die Schilderung eines Festes in der Hölle, wo (unter anderem) ähnlich wie in C. S. Lewis‘ Screwtape Letters den feiernden Teufeln Seelen zum Fraß vorgeworfen werden (Klinger ist allerdings Aufklärer oder Logiker genug, um hinzuzufügen, dass dies für diese Seelen nicht eine endgültige und totale Vernichtung bedeute: Sie werden irgendwo ganz hinten in der Hölle wieder zusammengesetzt, um wieder als Nahrung zur Verfügung zu stehen) – so ist auch die Verurteilung Fausts etwas vom Besseren dieses Romans. Zwar ist der kurze Ausflug in eine Diskussion der Willensfreiheit unbefriedigend – man kann das nicht in wenigen Abschnitten abtun. Aber die Idee, Faust zusammen mit Alexander VI. vor dem obersten Teufel erscheinen zu lassen, zeugt von einer gewissen Originalität. Ihre Verfehlungen sind zwar völlig verschiedener Natur, beide haben aber in einer Größenordnung gefehlt, die sie über die Masse der übrigen Menschen hinaus hebt. Fausts Strafe wird es sein, dass er in einem fernen Winkel der Hölle ohne Kontakt mit anderen Seelen gehalten wird und er nie die Antwort auf seine Zweifel erhalten wird – die Antwort, um derentwillen er ursprünglich in den Pakt mit Leviathan eingewilligt hatte. (Alexander VI., nebenbei, wird in einer andern Ecke ebenfalls in Einzelhaft gesetzt.)

Mit der Verurteilung Fausts wird das Aufbegehren des Stürmers und Drängers Klinger von Klinger, dem Aufklärer und Berufsmilitär in einem autokratischen Staat, zunichte gemacht. Das befremdet und der Roman wirkt dadurch einigermaßen richtungslos. Allerdings ist zu sagen, dass Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt der erste Roman eines Dekalogs war, in dem Klinger seine Position zwischen Sturm und Drang einerseits, Aufklärung und Staatsraison andererseits, klar zu stellen versuchte. Offen gesagt aber fehlt mir die Lust, die anderen neun Romane ebenfalls noch zu lesen …

Fazit: Klinger nimmt in politicis eine für die damalige Zeit in Deutschland typische Stellung ein: Aufklärung und mehr Bürgerrechte: Ja. Aber bitte eine langsame und von oben durch aufgeklärte Monarchen sorgfältig gesteuerte Befreiung. Hierin verrät Klinger, ist man versucht zu sagen, – wie übrigens praktisch fast alle deutschen Intellektuellen der Zeit – seinen gesellschaftspolitischen Mentor Rousseau, der den Gesellschaftsvertrag als naturwidrig angeprangert hatte. Alles in allem haben wir hier trotzdem eine interessante und originelle Faust-Geschichte mit ein paar ausgezeichneten, satirischen Schilderungen der Hölle und der Teufel vor uns. Der Roman zeigt aber auch schonungslos auf, warum Klinger nicht zu den ganz Großen der Literatur gezählt werden kann, da die Gesamtkomposition zu wenig konsequent geraten ist. Dennoch reut mich die Zeit nicht, die ich mit dem Roman verbracht habe.


Ich habe den Text in folgender Ausgabe gelesen:

Friedrich Maximilian Klinger: Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt. Anmerkungen von Esther Schöler. Nachwort von Uwe Heldt. Stuttgart: Reclam, 1998.

[Diese Ausgabe bringt den Text der zweiten verbesserten und vermehrten Auflage von 1794. Es handelt sich dabei um die politisch brisanteste Version, wohl der Grund, warum sie (wie allerdings auch schon die erste Auflage) anonym und mit falscher Verlags-Angabe veröffentlicht wurde. Eine dritte, noch zu Lebzeiten Klingers erschienene Auflage – nunmehr mit Namensnennung in seinen Werken von 1815 – wurde in vielem wieder entschärft, auch in den Ausfällen gegen den Genie-Kult und dessen „Vater“, Johann Caspar Lavater und dessen Physiognomik, die der Autor der zweiten Auflage hinzu gefügt hatte.]

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