Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Nochmals eine neue Form von Geschichtsschreibung. Nachdem Tamim Ansary in seinem (leider zu kurzen) Buch Die unbekannte Mitte der Welt zwar nicht die Form der Geschichtsschreibung als chronologische Abfolge von Taten von Völkern und ihren Herrschern verlassen hat, aber dafür den ansonsten im Westen üblichen Standpunkt des Westens für eine östliche Sichtweise vertauscht hat, was zu zum Teil sehr interessanten Konsequenzen in der Einstufung gewisser Ereignisse führt – nach Tamim Ansary also nun Neil MacGregor, der (ursprünglich im britischen Radio) in 100 Kapiteln an Hand von 100 Museumsgegenständen versuchte, seinen Hörern ein Geschichte der Welt zu präsentieren. Leider geht aus Neil MacGregors Vorwort nicht hervor, wann genau die Radio-Reihe ausgestrahlt wurde, die am Anfang dieses Buchs stand. Jedenfalls war das Projekt ambitiös, und es war Wissensvermittlung, also Bildungsradio, im modernsten und besten Sinn. Es war ein ambitiöses Projekt, weil im Radio die besprochenen Objekte nicht gezeigt werden konnten. Sie mussten beschrieben werden – so beschrieben werden, dass sich die Hörerschaft jeweils (im eigentlichen Sinn des Wortes) ein Bild machen konnte. Es war mindestens ebenso ambitiös, die 100 Objekte auch zu finden bzw. auszuwählen, die als Repräsentanten bestimmter Ereignisse oder Phänomene dienen sollten. Hier muss ich gleich den Titel korrigieren: In typisch menschlicher Hybris wird hier „Welt“ gesetzt, wo eigentlich „Menschheit“ gemeint ist, denn bei den ausgewählten Objekten handelt es sich allesamt um menschliche Artefakte – Objekte, die Menschen hergestellt haben, um ein Problem zu lösen oder eine Tätigkeit auszuüben (was eine kunsthandwerkliche, ja eine künstlerische Ausgestaltung des Werks ja nicht ausschließt). Die Objekte stammen aus allen sozialen Schichten: Repräsentationsobjekte von Herrschenden sind ebenso gelistet, wie Objekte des täglichen Gebrauchs des kleinen Mannes und der kleinen Frau. Der Begriff „Welt“ hat sich wahrscheinlich in den Titel eingeschlichen, weil eine der Spielregeln, wie es MacGregor in seinem Vorwort formuliert, darin bestand, dass nach Möglichkeit Artefakte „aus aller Welt“, d.h., aus allen Ecken (sit venia verbi) des Globus, von allen Kontinenten, von Menschen aller Hautfarbe und auch aus allen Religionen vorgestellt werden sollten. (Einzig die Antarktis als letzter von der Menschheit „besiedelter“ Kontinent, fehlt – aber auch da hatte es offenbar Überlegungen gegeben, ein Objekt vorzustellen.)

Ein anderer Teil der Spielregeln war es, dass alle Artefakte aus demselben Museum stammen müssten. Ich weiß nicht, ob es viele Museen gibt, die dieser Bedingung Genüge tun könnten – in London war es kein Problem, denn wenn es ein Museum auf dieser Welt gibt, das Exponate aus aller Welt und aus allen Zeiten vorweisen kann, von 2’000’000 vor unserer Zeitrechnung bis zum Jahre 2010, ist es das British Museum, dessen Leiter Neil MacGregor zu jener Zeit war.

Der Ursprung der Beiträge aus einer Radiosendung macht sich im Buch immer noch bemerkbar: Alle Beiträge sind ziemlich genau gleich lang und weisen einen sehr ähnlichen Aufbau auf. Das ist nicht einmal schlecht so, im Gegenteil. Zunächst wird das Objekt beschrieben. Das ist auch im Buch nicht überflüssig, wo nun (zum Teil ganzseitige) Hochglanzbilder der besprochenen Objekte in den Artikel eingefügt sind, denn es gelingt dem Autor immer mal wieder, auf ein Detail aufmerksam zu machen, das man als Leser bzw. Leserin beim Betrachten und Anstaunen der Fotografie ganz einfach übersehen hat. Danach wird das Objekt in einen größeren Zusammenhang eingeordnet, seien es Handelswege, die es genommen haben muss, um dort zu erscheinen, wo es gefunden wurde, sei es der Versuch einer Rekonstruktion des Alltags seines ursprünglichen Besitzers, seiner religiösen Überzeugungen (und deren Zusammenhang mit seiner Umgebung, ja manchmal sogar Ausflügen in die Weltpolitik der jeweiligen Epochen). Manchmal werden auch statt oder zusätzlich zu einer Einbettung in die Zeit chronologisch-historische Zusammenhänge deutlich gemacht. Jedes Objekt erzählt so eine Geschichte, die als Fragment einer grösseren Geschichte ausgewiesen ist.

Es ist auch nicht so, dass wir nur Neil MacGregor hören. Der Autor lässt auch in längeren Zitaten Stimmen Dritter zu Wort kommen. Das sind meist WissenschaftlerInnen, die aus dem Fachgebiet stammen, in den das Artefakt eingebettet ist, die aber zugleich aus der Region stammen, in der es ursprünglich beheimatet war. Meist sind es Stimmen aus dem 21. Jahrhundert, nur manchmal Zeitgenossen der Artefakte (Las Casas, Cook, Banks, Samuel Johnson). Einmal, bei der Statue eines Pharaos wird Shelleys Hymnus auf dieselbe zitiert; einmal, bei einen Objekt aus Kublai Khans Shangdu (Xanadu), natürlich das entsprechende Gedicht Coleridges (dessen Manuskript sich natürlich ebenfalls im British Museum befindet).

Es geht in diesem Buch nicht um große Namen der Weltgeschichte; Kriege und die ganze politische Geschichte bilden allenfalls den Hintergrund zur Darstellung der Lebenswelt einer Zeit und eines Orts. (Insofern ist dann der Begriff „Welt“ im Titel auch wieder berechtigt.)

Die Artikel sind in Fünfergruppen nach Epochen geordnet. Die Epochen überschneiden sich, da je nach dem Gesichtspunkt, der der Gruppierung diente, die Geschehnisse natürlich zeitlich anders abgegrenzt werden können (müssen). Im Großen und Ganzen wird eine chronologische Reihenfolge innerhalb der Fünfergruppen eingehalten; nur der allererste Artikel ist nicht der zum 2 Millionen Jahre alten Schneidewerkzeug aus Tansania (das ist erst der zweite), sondern zu einer ägyptischen Mumie, die relativ jung ist (240 v.u.Z.). Der Grund dafür liegt offenbar darin, dass es diese Mumie war, die den Autor überhaupt zum Studium der Geschichte und zum British Museum brachte, dem er von 2002 bis 2015 (also auch zum Zeitpunkt der Radio-Reihe und des Buchs) als Direktor vorstand.

Manchmal will mir zwar scheinen, der Autor verschließe die Augen vor religiösen Verwerfungen, die bis in die Gegenwart wirken, und betone die (zweifellos auch vorhandene) Toleranz gewisser Gesellschaften allzu sehr. Auch die Frage danach, ob es moralisch „richtig“ sei, dass die meisten besprochenen Artefakte dem Land ihres Ursprungs in kolonialer Machtherrlichkeit entzogen worden sind, wird nur selten angesprochen – und dann meist auch von WissenschaftlerInnen aus der Region vorsichtig bejaht. Die Radio-Reihe und das Buch sollten offenbar auch ein Wohlfühl-Werk werden. Nichtsdestotrotz: Das Ganze ist abwechslungsreich und interessant gestaltet. Bild und Text faszinieren und geben dem Leser, der Leserin, immer neuen Stoff. Die einzelnen Texte ergänzen einander auch – und so hat man zum Schluss eine Geschichte der menschlichen Kultur, die in rund 800 Seiten vorbildhaft ist.


Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. Aus dem Englischen von Waltraut Götting, Andreas Wirthensohn und Annabel Zettel. München: C. H. Beck, 2011.

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