Sam Harris: Das Ende des Glaubens

Harris gehört zu den bekanntesten Atheisten und wird gerne in einem Atemzug mit Richard Dawkins, Daniel Dennett oder Christopher Hitchens genannt. Das vorliegende Buch erreichte enorme Auflagezahlen, ist aber auf verstörende Weise intellektuell inkonsistent, was wohl auch einer philosophischen Selbstüberschätzung des Autors geschuldet ist.

Im ersten Teil kritisiert Harris die beiden großen Buchreligionen Christentum und den Islam als auch den Vorläufer und Ideengeber: Das Judentum*, dessen Altes Testament von Muslimen und Christen als heilig betrachtet wird (selbst Jesus wird im Islam hochgeschätzt als Prophet, nicht aber als Messias und Gottessohn – was die Muslime mit den Juden gemein haben). Diese „geoffenbarten“ Religionen richten deshalb besonders viel Schaden an, weil sie den Anspruch auf „Wahrheit“ erheben (und damit implizit alle Anders- oder Nichtgläubigen als böswillige oder unwissentliche Verleugner dieser Wahrheit betrachten). Ein solcher Glaube ist per definitionem kein Welterklärungsmodell wie etwa die Wissenschaft (was von Relativsten, Postmodernisten verschiedenster Couleur häufig behauptet wurde): Es geht den Religionen nie um epistemologische Ansprüche, weil der dogmatische Kern eine Änderung der Sichtweise (wie sie für die Wissenschaft typisch ist) nicht zulässt. Aus Sicht der Gläubigen ist das nur logisch, weil ein allwissender, allmächtiger Gott, der der Korrekturen bedarf, ein Widerspruch in sich selbst wäre. Gerade deshalb fällt Harris‘ Kritik an den „gemäßigten“ Gläubigen harsch aus und tatsächlich muten die Verrenkungen „aufgeschlossener“ Christen und Muslime lächerlich und verlogen an: Man lässt große Teile der geoffenbarten Weisheit unter den Tisch fallen, pickt sich einige wenige Textstellen heraus (die einigermaßen kompatibel mit einem säkular-humanistischen Weltbild sind) und unterwirft (so sie eben nicht ignoriert werden) viele Passagen einer kreativen, symbolistischen Exegese, um eine zumindest ansatzweise konsistente Geisteshaltung zu bewahren.

Das Bemühen um logische Struktur erscheint angesichts des jeder Religion inhärenten und sie bestimmenden Supernaturalismus widersprüchlich und seltsam, da alle diese Anstrengungen bestenfalls in kleinen Teilen erfolgreich sein können. Die Orthodoxen in den verschiedenen Religionen erkennen diese Gefahr durchaus und weigern sich zu Recht, irgendwelche Konzessionen an die Welt, den Säkularismus zu machen: Zum einen verweisen sie mit Recht auf das Göttliche (und damit nicht Verhandelbare) der Offenbarungen, zum anderen dürften sie ahnen, dass schon geringe Zugeständnisse den ganzen Bau zum Einsturz bringen würden (man kann die evangelischen Wundertaten Jesu „zeichenhaft“ wegrationalisieren, nicht aber die unbefleckte Empfängnis, weil spätestens hier das Fundament des Glaubens unterminiert würde). Und obwohl man also nicht alles Biblische wörtlich nehmen solle und der Wunderglaube selbst in religiösen Kreisen für die naive, ältliche Jungfer reserviert wird, betreibt man andererseits einen ungeheuren Aufwand, wenn es um „wissenschaftliche“ Beweise von vorgeblichen Wundern geht und man könnte sich den Freudentaumel unter Christen ausmalen, wenn das Turiner Grabtuch nicht von 1400, sondern aus der Zeit um 30 n. u. Z. aufgrund der Radiokarbonmethode datiert worden wäre.**

Bis hierhin kann man Harris ohne weiteres folgen, auch wenn seine Verdammung des Islam (im Vergleich zum Christentum) ungerecht erscheint: Es mag zwar sein, dass die meisten Selbstmordattentäter Muslime sind und dass ihre Religion einem solchen Tun (göttlich-offenbarten) Vorschub leistet, aber es gab auch im Christentum eine Märtyrerkult sondergleichen und gerade dann, wenn man eine erkleckliche Anzahl Heiden unter Hingabe seines Lebens gemeuchelt hatte, stand den Chancen für eine Heiligsprechung und dem Verweilen an Gottes Seite nach dem Tod nichts mehr im Wege. (Die gegen die Kirche erzwungene Säkularisierung wurde im Islam (noch?) nicht vollzogen: Daher konnten sich archaische Glaubensvorstellungen mit moderner Technik paaren. Wobei selbstverständlich auch heute noch im Namen des (christlichen) Gottes gemordet wird und einem im Krieg gefallenen (christlichen) Soldaten wird alle erdenkliche Ehre zuteil.) – Dann aber gerät der Autor auf Abwege und will auf ein wenig Metaphysik doch nicht verzichten, paart diesen seinen Wunsch mit einer wenig durchdachten Moralphilosophie und drogeninduzierten Erkenntnissen.

Diese eigenartige, oft krude Mischung aus Drogen, „Spiritualität“ und freiheitlich-anarchischen Konzepten ist ein Erbe der 68er-Generation, das einzig in Gesellschaften gedeiht, deren konsumorientierte Lebensart zu verachten von ihren Vertretern vorgegeben wird. Man verficht die „Freigabe aller Drogen“, ohne auf die Schwierigkeiten einer solchen Politik zu achten, sondern weil das aufgeschlossen und vorureilsfrei klingt. Haschischverkauf liberalisieren – mit dem (berechtigten) Hinweis, dass Alkohol sehr viel größere Schäden anrichtet? Ich kenne einige, deren dauerbekifftes Leben wenig beneidenswert erscheint, die unter Paranoia leiden und ebenso mühselig wie Alkoholiker von ihrer Sucht loszukommen suchen. Wozu eine relativ leichte Verfügbarkeit von Suchtmitteln führt, ist an der Opioidkrise abzulesen (die längst nicht nur auf die USA beschränkt ist): Zu erheblichem Leid ganz einfach dadurch, dass Drogenhersteller und Drogendealer (also auch die pharmazeutische Industrie) ein Interesse am Verkauf ihrer Produkte haben und nicht an einem „verantwortungsvollen“ (was immer man darunter verstehen mag) Umgang mit den Suchtmitteln. Bayer und Pfizer sind genauso wie jeder kleine Dealer gewinnorientiert – und ich kann nicht sehen, warum dies nach der Freigabe fast aller derzeit verbotenen Stoffe bei den Vertreibern derselben anders sein sollte. (Ich halte allerdings sehr viel von Drogen-Ersatzprogrammen bzw. von einer kontrollierten Abgabe für Süchtige, wodurch diesen oft überhaupt erst ermöglicht wird, über eine Änderung ihrer Lage nachzudenken. Von anderen Vorteilen wie der Reduzierung der Beschaffungskriminalität und der Vermeidung gesundheitlicher Probleme ganz abgesehen.)

Diese Implikationen beschäftigen Harris jedoch kaum, ihm ist es um die ach so oft bemühte „Bewusstseinserweiterung“ zu tun, um das Ausloten der eigenen geistigen „Tiefen“. (Wer des öfteren Unterhaltungen mit auf diese Weise erleuchteten Personen geführt hat, weiß um die zweifelhaften Einsichten der „Illuminati“ .) Mitentscheidend für die Einführung der metaphysischen Komponente durch die Hintertür ist die exotische Note, die dem Ganzen anhaftet: Sibirischer Schamanismus oder ein indianischer Häuptling unter Psilocybineinfluss sind allemal faszinierender als Weihrauchdämpfe in einer katholischen Kirche. Obwohl Harris‘ bewusstseinserweiterndes Steckenpferd die ganz triviale buddhistische Meditation zu sein scheint, die „Weisheit des Ostens“, wie er sich nicht entblödet, ein Kapitel zu überschreiben. Dass Harris diesen Weg der Einfalt bis zu seinem dümmlich-metaphysischen Ende zu gehen gedenkt, beweist er durch sein Orakeln über den Tod, bei dem keiner wisse, was nach ihm kommt.*** Die Vermutung, dass uns ein ganz ähnliches Schicksal widerfahren wird wie allen anderen Säugetieren auf diesem Planeten, ist dem Denker zu trivial: Ein Schicksal, das wir in der Regel gut zu kennen glauben und von dem manche bestenfalls dann eine Ausnahme zu machen bereit sind, wenn es sich um den Familienhaushund handelt (hingegen kann die Rattenplage im Keller mit keiner Verewigung rechnen).

Ein andere Seltsamkeit in Harris‘ Denken besteht in seiner Überzeugung, dass man moralische Haltungen logisch einwandfrei herleiten (beweisen) könne, wobei er das mit dem tatsächlich vorhandenen Problem des Relativismus in der Epistemologie, der Wissenschaft verquickt (dort ist dies eine Seuche, die mit anderen Mitteln bekämpft werden muss). Die Begründung der Moralphilosophie erfolgt hingegen immer axiomatisch, dezisionistisch etc. (und Absolutheitsansprüche kann man weder hier noch dort erheben): Man postuliert Grundsätze, von denen man glaubt, dass sie sich allgemeiner Zustimmung erfreuen (bzw. „richtig“ sind), leitet aus diesen Grundsätzen deduktiv Verhaltensregeln ab, um den zuvor anerkannten Prinzipien so gut als möglich Genüge tun zu können. Das „Wie“ kann und ist Gegenstand langwieriger Auseinandersetzungen, Abhandlungen, Betrachtungen: Erst weil sie dem zuvor anerkannten Regelwerk dienen sollen, kann man überhaupt über Wege zu einem bestimmten Ziel diskutieren. Ganz anders verhält es sich mit dem Fundament selbst: Wer dieses nicht anerkennt, dem kann man auch keinen Verstoß vorwerfen; folglich ist auch eine Auseinandersetzung über die Mittel, die zum (nicht anerkannten) Ziel führen sollen, unmöglich. Das beste historische Beispiel stellt diesbezüglich der Nationalsozialismus dar (der jedweden Pazifismus, ein unter anderen Voraussetzungen geeignetes Mittel, um Konfrontationen zu vermeiden, ad absurdum geführt hat): Ich kann behaupten und für richtig befinden, dass Juden keine Menschen sind und deshalb vergast werden sollten (zum Wohle eines Grundsatzes, der so dezisionistisch ist wie jeder andere). Eine solche Feststellung ist logisch widerspruchsfrei und jedes Argument, sie als falsch zu erweisen, scheitert daran, dass die alles fundierenden Überzeugungen unterschiedlich sind (sie sind wahr oder falsch nur unter der Voraussetzung ihrer Anerkennung, hier waltet kein kosmisches Gesetz). Moralisches Verhalten ist immer abhängig von einem Grundkonsens, auf diesen jedoch muss ich mich erst verpflichten. Eigentlich erleben wir gerade eben ein schönes Beispiel dafür, dass ein solcher Grundkonsens nicht anerkannt werden kann – und zwar per definitionem: Trump hat bereits vor der Wahl angekündigt, nur ein Ergebnis zu akzeptieren, das ihn als Sieger ausweist****. Und er hat gezeigt, dass ein solcher Verstoß – mit Ankündigung – ohne weiteres durchführbar ist und keineswegs nur bei einer kleinen Minderheit auf Zustimmung trifft. Und so muss auch der Versuch des Autors zu zeigen, dass es falsch sei, unschuldige kleine Kinder zu töten, scheitern: Weil man sich auf diese Prämisse nicht verständigen muss. Sein Bemühen um eine evolutionär-anthropologische Herleitung macht sich zum einen des naturalistischen Fehllschlusses schuldig – (auch wenn er ganz verzweifelt in einer Endnote das Gegenteil zu zeigen versucht) und würde zum anderen auch ohne diese Bezugnahme auf die Natur kläglich scheitern: Weil die von ihm bemühten Primaten nicht nur Solidarität und Mitgefühl demonstrieren, sondern auch für Gewaltexzesse, Vergewaltigung und Mord verantwortlich sind.

Das Buch ist also ein eher zweifelhaftes Elaborat, bestenfalls mit Feuilletoncharakter. Leider will der Autor sehr viel mehr, er will beweisen, wo das nicht möglich ist, er gibt vor kritisch zu sein, sucht aber vielmehr nach mehr-weniger sophistischen Erklärungen für seine eigenen Überzeugungen, die von der Kritik ausgeschlossen bleiben. Natürlich hat er grosso modo Recht mit seiner Verdammung des Christentums und des Islam, aber er verhält sich dann den östlichen Religionen gegenüber (oder der östlichen „Weisheit“, was immer das sein soll) doch wieder ein wenig so wie der amerikanische Präsident: „Stop the count – stop voting“ – je nach persönlicher Vorliebe. Und das ist sicher kein Vergleich, auf den Harris besonders stolz wäre.


*) Das Judentum als „große“ Buchreligion zu bezeichnen scheint angesichts der Zahl von ca. 15 Millionen vermessen (der Voodoo-Kult kann auf die vierfache Zahl an Anhängern verweisen).


**) Diese Haltung teilen Religiöse – wenig überraschend – mit Esoterikern (z. B. in der Alternativemedizin): Wie unsinnig und abstrus die vorgeschlagene Heilmethode auch sein mag, fast immer wird sie mit „wissenschaftlich erwiesen“ beworben (obwohl es ja gerade die Wissenschaft ist, gegen die man sich wendet). Man bemüht das logisch-rationale Denken immer dort, wo man sich einen Vorteil davon verspricht.


***) Solche Aussagen besitzen nicht den geringsten Informationsgehalt. sie sind leer. Wie mit dem nicht zu erhaschenden Geist hinter dem Rücken von Kindern: Man kann sich umdrehen so oft man will und sieht ihn doch nicht. – Mit einem Spiegel!? Nein, das ist ein Geist, der nicht gespiegelt werden kann. Usf.


****) Vergleichbar ist ein solches Verhalten mit Allaussagen wie „Alle Schotten sind geizig“: Wenn ich auf ein (schottisches) Subjekt treffe, das dem widerspricht, kann ich der Widerlegung dadurch entgehen, dass ich der Allaussage dogmatische Kraft verleihe und zur Defintion umwandle: Ist X tatsächlich nicht geizig, dann kann es kein Schotte sein.


Sam Harris: Das Ende des Glaubens. Winterthur: Edition Spuren 2007.

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