Volker Gerhardt / Matthias Weber / Maja Schepelmann (Hrsg.): Immanuel Kant 1724-2024. Ein europäischer Denker

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich, könnte man sagen, um eine Festschrift zu Immanuel Kants 300. Geburtstag, der 2024 gefeiert werden kann. Das Buch ist also im Grunde genommen zu früh erschienen; das war aber, so die Herausgeberschaft, Absicht. Man wollte eine Diskussion um die in diesem Buch vertretenen Thesen entfachen, die dann 2024 im schönsten Feuer sein solle. (Natürlich – das wird aber nicht gesagt – ist es auch schlau, eine solche ‚Festschrift‘ schon jetzt zu veröffentlichen, bevor sie dann in zwei Jahren im Trubel der feierlichen Ereignisse eventuell ganz untergeht.) Die verschiedenen hier versammelten Aufsätze stammen alle von (meist deutschen) Kant-Spezialisten und -Spezialistinnen und behandeln so ziemlich die ganze Bandbreite von Kants Denken. Die nicht ganz 350 (großen!) Seiten enthalten – nach den üblichen Einleitungen und Grußworten auch eine als weitere Einleitung deklarierte Kurzbiografie Kants unter dem Titel Weltbürger in Königsberg. Dann folgen fünf Hauptkapitel, die – in dieser Reihenfolge – die geschichtliche Stellung der kritischen Philosophie behandeln, die drei Kritiken vorstellen, die systematische[n] Leistungen der kritischen Philosophie würdigen, auf die aktuellen Editionen der Kantischen Schriften eingehen (Das neue Opus postumum und eine neue historisch-kritische Ausgabe der ersten Abteilung der Akademie-Ausgabe), schließlich Die Wirkung Kants in Geschichte und Gegenwart diskutieren. Ich werde im Folgenden die einzelnen Referenten / Beiträge nicht von einander unterscheiden, sondern versuchen, zu ermitteln, was das Hauptziel aller Beiträge ist und dieses Ziel bzw. dessen (Nicht-)Erreichung kritisch (im Kant’schen Sinn!) zu betrachten.

Zuvor aber noch eine kurze Bemerkung zur gestalterischen Aufmachung des Buchs. Da Kants Wirkung auch außerhalb der Philosophie, vor allem im Bereich der gestaltenden Künste (Bildhauerei, Malerei und Fotografie), vorgestellt wird, ist sehr viel Bildmaterial verarbeitet worden. Darunter sind natürlich auch alte Karten von Königsberg, zeitgenössische Gemälde (zum Beispiel eine Darstellung eines der damals berühmten Berliner Salons), aber auch Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Ich bin auf dem Gebiet der modernen Kunst ausgewiesenermaßen kein Kenner; also darf es nicht erstaunen, dass ich erstaunt war darüber, wie viele Künstler:innen des 20. und 21. Jahrhunderts sich aktiv und unter Namensnennung mit Kant auseinander gesetzt haben – vor allem, dass da etwelche Vertreter zum Beispiel des Surrealismus (allen voran Salvador Dalí, der an Kants Kritik der Urteilskraft zwei Jahre lang saß) vertreten sind, wusste ich tatsächlich nicht.

Das umfangmäßig längste 5. Kapitel (rund 100 Seiten von rund 300) und der Untertitel des Buchs (Ein europäischer Denker), sowie die Tatsache, dass auch in anderen Kapiteln immer wieder darauf gezielt wird, lassen den Schluss zu, dass die Herausgeberschaft vor allem die politische Philosophie Kants im Auge hatten für diese Publikation – ihre zeitgenössische Wirkung und die Möglichkeit ihrer (philosophischen) Anwendung auf heutige Verhältnisse. Hier stehen dann weniger Kants Kritiken im Zentrum, sondern seine späteren, religionsphilosophischen und politischen Abhandlungen: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Zum ewigen Frieden und Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie sowie die ein wenig pro domo verfasste Streitschrift Der Streit der Facultäten in drey Abschnitten. Wir können mit den Verfasser:innen der einzelnen Aufsätze zusammenfassend festhalten, dass Kant sich in seiner politischen Philosophie als Pazifist darstellt, als Verfechter einer Rede- und Denkfreiheit des Einzelnen und dass er daran glaubt, dass beides am besten im Busen einer Republik aufgehoben ist. Denn nur – hier ist Kant ein wahrer Schüler von Adam Smith – wenn jeder einzelne gleichteilig daran interessiert ist, werden Freiheit und Frieden ent- und bestehen können. Als „technisches Hilfsmittel“ postulierte Kant eine Art Völkerbund, in dessen Mitte Streitfälle ohne Krieg geschlichtet werden sollten. (Ob er auf ein vereintes Europa hinzielte oder auch nur daran dachte, wie einige Beiträger:innen mir zu suggerieren scheinen, halte ich für unwahrscheinlich.) Anthropologische Grundlage dieser allgemeinen Freiheit ist der aufgeklärte Einzelne, der den Mut hatte und hat, selber zu denken. Dabei finden wir immer wieder Stellen in Kants Werk, die zeigen, dass der Philosoph sich durchaus dessen bewusst war, dass das Material, mit dem er seine Utopie bauen wollte, alles andere als ideal war – das berühmte krumme Holz ist das bekannteste Beispiel. Das bewirkte dann oft eine Art Mäßigung Kants, wenn es darum ging, nach der Theorie, Möglichkeiten einer praktischen Ein- oder Durchführung zu diskutieren. Optimist im Ziel, Realist (oder gar Pessimist) in den Mitteln zu dessen Erreichung.

Wie weit aber ist Kants politische Theorie auch im 21. Jahrhundert, 300 Jahre nach seiner Geburt, noch gültig und verwendbar? Auch auf diese Frage versuchen einige Beiträger:innen zu antworten. Keine dieser Antworten vermag aber meiner Meinung nach zu befriedigen, weil alle Kants Ausgangspunkt des aufgeklärten Einzelnen übernehmen; der aber ist meines Erachtens heute in dieser, Kants Form, fragwürdig geworden. Als Kant diesen Idealmenschen postulierte, war es noch so, dass in praktisch allen Staaten der Erde mehr oder weniger autokratisch herrschende Potentat:innen wirkten, die in den meisten Fällen nicht nur absoluten Gehorsam einforderten, sondern auch vorschrieben, dass man sich in den Veröffentlichungen, ja sogar in den geheimsten Gedanken, um kein Jota von dem entfernte, was er oder sie für den Staat als richtig betrachtete. (Friedrich der Große, der seine Untertanen denken und schreiben ließ, was sie wollten, so lange sie nur seinen übrigen Befehlen gehorchten, war da eine eminente Ausnahme – was auch Kant erfahren musste, als nach seinem Tod mit Friedrich Wilhelm II. ein ganz anderer Charakter die Herrschaft übernahm.*) Der Einzelne sollte also den Vorschriften von oben sein individuelles Denken entgegensetzen – eine sehr subversive These. Heute aber steht in vielen Staaten nicht mehr eine absolut herrschende Einzelperson zuoberst, sondern die Herrschergewalt liegt beim Volk selber – der Versammlung aller Einzelnen also. Wenn ich als Einzelner mit der „Richtung von det Janze“ nicht konform gehe, habe ich je nach Einrichtung der demokratischen Regeln im betreffenden Land mehr oder weniger effiziente Möglichkeiten, eine Richtungsänderung durchzuführen / durchführen zu lassen. Die Spielregeln haben also seit Kant geändert – zumindest in den meisten europäischen Ländern. Wenn nun welche – wie die in den letzten beiden Jahren zu trauriger Berühmtheit gekommenen ‚Querdenker‘ – der Meinung sind, dass sie als Einzelne und als Ausnahmen ihren Verstand richtig gebrauchen, aber sich weigern, den demokratisch-republikanisch vorgegebenen Weg zu betreten, ihre Meinung durchzusetzen: Welches sind die Mittel, die wir in diesem Fall zur Verfügung haben? Ein einzelner kann als Krankheitsfall abgetan werden, aber Tausenden? Kant hätte sich über das Auftreten von ‚Querdenkern‘ wohl kaum gewundert, aber vorhersehen konnte er es auch nicht. Wenn er aber heute lebte, hätte er eine Antwort auf diese Pervertierung seines Systems? Darauf liefert leider auch die ‚Festschrift‘ keine Antwort, nicht einmal den Versuch einer Antwort, nicht einmal einen Hinweis darauf, dass man sich des Problems bewusst wäre. Hier rächt es sich meiner Meinung nach, dass man in dieser Publikation den Wissenschaftstheoretiker Kant praktisch ausgeklammert hat. Denn das Problem der ‚Querdenker‘ hängt eng mit dem der Wahrheitstheorie zusammen und mit dem des wissenschaftlichen Arbeitens, des wissenschaftlichen Beweises, der modernen und für Laien undurchsichtig gewordenen Naturwissenschaft. Ich weiß nicht, ob es für das Problem des ‚Querdenkers‘ der Jahre 2020-2022 eine Lösung gibt, aber dass nicht einmal das Problem erkannt wurde, kann ich mir nur so erklären, dass offenbar die meisten hier versammelten Aufsätze bereits geschrieben waren, als diese Bewegung sich auf den Straßen bemerkbar machte.

Dann ist da noch die Frage nach dem Rassismus und dem Antisemitismus Kants, die auch in einer breiteren Öffentlichkeit in den letzten Jahren des öfteren thematisiert wurde – meist von Leuten, die Kant nicht gelesen haben. Auch da gibt es – anders als die Autor:innen des vorliegenden Buchs meinen – keine eindeutige Antwort. Da ist zum einen die Tatsache, dass Kant solche politischen Erscheinungen wie den Kolonialismus der Epoche oder die immer noch existierende Sklaverei explizit verurteilte. Wir müssen aber auch sagen: vor allem verurteilte, weil er, hierin ein Gefolgsmann von Adam Smith, der Meinung war, dass beide (unter einander zusammenhängenden!) Systeme ökonomisch kontraproduktiv seien, weil die kolonisierten Länder, die versklavten Leute, mehr und besser produzieren würden, wenn sie das im eigenen Interesse zu tun in der Lage wären. Was den Rassismus betrifft, lässt sich zeigen (und wird in einem Aufsatz hier auch gezeigt, dass Kant auch Personen schwarzer Hautfarbe alle Menschenrechte zuspricht). Wenn aber hier dann auf die Kontroverse zwischen ihm und Georg Forster Bezug genommen wird, so schiebt man – im Eifer der Sache, Kant rein zu waschen – den Schwarzen Peter (!) des Rassismus einfach Forster in die Schuhe. Ein genauerer Blick auf die Kontroverse hätte zeigen können, dass hier ein Missverständnis vorlag. Forster – der etwas mehr von der Welt gesehen hatte als Kant! – hatte tatsächlich Kontakt gehabt mit den indigenen Völkern Tahitis oder Neuseelands. (Ob Kant in seinem Leben je einen Schwarzen gesehen hatte, ist zweifelhaft trotz der im Buch auch immer wieder hervorgehobenen Tatsache, dass Königsberg zu seiner Zeit ein internationaler Handelsplatz und Hafen war, wo sich See- und Kaufleute aus aller Herren Länder begegneten.) Forster hatte miterlebt, wie andere Rassen andere moralische Kodices kannten. Es fehlte ihm in der Auseinandersetzung mit Kant allerdings das dialektische Rüstzeug, um den Unterschied von ‚Rasse‘ und ‚Kultur‘ treffen zu können – denn tatsächlich war es das, was er mit heutigen Worten sagen wollte: Dass es andere Kulturen gibt, die andere moralische Maßstäbe an die Handlungen ihrer Mitglieder legen. Kant wiederum war für kulturelle Differenzen blind; er konnte sich nichts anderes vorstellen, als die Gelehrtenrepublik, in der er fast sein ganzes Leben verbracht hatte, und die eine typisch europäische Erscheinung der Zeit ist. (Um ein anderes Beispiel zu bringen: Kants Individuum, das seinen Verstand selber zu gebrauchen lernt, wäre in China zu seiner Zeit unmöglich gewesen, wo seit Alters das Denken des Konfuzius herrschte, nachdem nur sittlich akzeptabel, was sich als Gehorsam gegenüber seinen Oberen erweist. Bis heute definiert in China der Staat die moralischen Qualitäten seiner Untertanen; sie werden nicht an einem wie auch immer gearteten unabhängigen Massstab gemessen.) Der Eurozentrismus Kants hätte für eine sinnvolle Diskussion auch zumindest angerissen werden müssen – vor allem heute, wo immer mehr Drittweltstaaten sich eine Einmischung der Europäer oder US-Amerikaner verbitten und zum Beispiel lieber nach den – uns grotesk „mittelalterlich“ anmutenden Gesetzen der Scharia leben, unter der Herrschaft autokratischer Despoten. Wo es schließlich um Kants Antisemitismus geht, ob es einen bei ihm gegeben habe oder nicht, wird die Argumentation unfreiwillig komisch. Unter Vernachlässigung bei Kant tatsächlich zu findender negativer Ausführungen zu Juden und dem Judentum im Allgemeinen wird die Anekdote erzählt, wie Moses Mendelssohn unangemeldet nach Königsberg kam, um einmal Kant zu hören, wie er im Hörsaal ausgebuht wird, und erst nachdem er sich am Ende der Vorlesung Kant vorgestellt hatte, worauf die beiden Hand in Hand den Hörsaal verlassen – erst dann wird er plötzlich gefeiert. Es mag sogar sein, dass diese Anekdote auf Wahrheit beruht – aber es ist a) ein Gemeinplatz, dass zu den größten Antisemiten jene gehören, die von sich sagen, sie seien keine,sie hätten ja sogar jüdische Freunde, und b) ist der Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine in der Philosophie seit David Hume, spätestens aber seit Popper, zumindest fragwürdig.

Fazit: Was da ist, ist meistens gut. Aber es reicht nicht, um Kants Bedeutung als politischer Philosoph auch für die heutige Zeit nachzuweisen.


* Und prompt mit ihm kollidierte. Die Art und Weise, wie Kant ihn (und schon früher andere Vorschriften anderer, meist universitärer Behörden) mit Ironie, ja Satire, ausmanöverierte,wird hier zwar ebenfalls angedeutet, leider werden keine Beweisstücke zitiert. Wie anders aber war Kants Umgang mit seinen Oberen, wenn man ihn mit dem vergleicht, was in der DDR die paar überhaupt zu Kant erscheinenden Aufsätze amtlich bestallter Philosophieprofessoren lieferten, die die unmöglichsten Feststellungen Stalins als fest stehende philosophische Wahrheiten weitergaben.


Volker Gerhardt / Matthias Weber / Maja Schepelmann (Hg.): Immanuel Kant 1724-2024. Ein europäischer Denker. Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa [was es nicht alles gibt!], Band 83. Berlin, Boston: de Gruyter / Oldenbourg, 2022

1 Reply to “Volker Gerhardt / Matthias Weber / Maja Schepelmann (Hrsg.): Immanuel Kant 1724-2024. Ein europäischer Denker”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert