Jens Malte Fischer: Karl Kraus

Ausgezeichnet mit dem Bayerischen Buchpreis 2020 für das beste Sachbuch. – Wie die vor kurzem besprochene Fontane-Biografie von Rutsch ebenfalls ein Beifang meiner Bestellung der Preisträgerin des Deutschen Buchpreises bei der Büchergilde. Zum Zeitpunkt der Bestellung war es allerdings noch nicht klar, dass ich mit drei bestellten Büchern gleich zwei Buchpreis-Träger an Land ziehen sollte, wurden doch die Bayerischen Preisträger erst am 19. November 2020 bekannt gegeben, als ich das Buch bereits in Händen hielt. (Ich habe jetzt keine großen Nachforschungen betrieben – es mag also sogar sein, dass auch Rutsch einen Preis für seine Arbeit erhalten hat. Dann wäre die Trefferquote sogar 100%.)

Vorweg: Anders als beim Deutschen Buchpreis bin ich mit der Auszeichnung durch die Jury des Bayerischen Buchpreises durchaus einverstanden. Fischers Kraus-Biografie ist ausführlich und sachlich – eben, was ich von einer wissenschaftlich fundierten Biografie erwarte. Inhaltlich habe ich keine schwerwiegenden Schnitzer gefunden – wie sollte ich, habe ich mich doch sicher weniger lange und weniger intensiv mit Kraus auseinandergesetzt, als der Autor. Wenige mir spürbare Auslassungen trüben das Gesamtbild zwar ein wenig, ebenso wie die – trotz moderner Autokorrektur – offenbar unvermeidlichen Druckfehler. Letztere hätten vor allem wohl Kraus selber sehr geärgert, insbesondere, weil es ja um ihn selber geht.

Ich will nun weder die Biografie, noch Kraus‘ Leben zusammenfassen. Fischer wendet eine ähnliche Technik an wie Rutsch, will sagen, er erstellt Großkapitel (manchmal sind diese noch in kleinere Einheiten unterteilt), in denen er ein Thema mehr oder weniger erschöpfend und in mehr oder weniger chronologischer Reihenfolge behandelt – was dann natürlich bedeuten kann, dass er in der Groß-Chronologie weit vor- und manchmal auch wieder zurückgreifen muss. Das Aufscheinen der Großthemen folgt nämlich in etwa der Reihenfolge, in der sie in Kraus‘ Leben wichtig geworden sind. Anders als Rutsch aber verzichtet Fischer auf eine psychologische oder gar psychoanalytische Diagnose bei den einzelnen Themen; auch kennt Fischer kein übergreifendes Gesamt-Motto in der Form einer Wanderung wie jener. (Bei Kraus müsste es ja sowieso eher das Motto des Sesshaft-Seins und -Bleibens in Wien sein – und dazu noch in einer relativ kleinen Wohnung! Selten wohl gab es einen sesshafteren Wiener als diesen aus Böhmen zugewanderten Juden.) Vielleicht erklärt der Umstand, dass der konservative Kraus mit einigen (zu ihrer Zeit) ‚progressiven‘ Musikern befreundet war, mit Brecht und auch mit Benjamin, dass Fischer seine Thesen seinerseits gern mit Zitaten von ‚linken‘, aber kultur- und (wie Kraus!) fortschrittskritischen Autoren wie eben Benjamin, aber auch Adorno und Habermas untermauert? Es gab offenbar in der so genannten Frankfurter Schule offenbar eine Überlieferungstradition von Karl Kraus, immerhin hatte Adorno bei Berg Kompositionstechnik studiert.

Kraus, und das ist das Problematische seiner Rezeption im 21. Jahrhundert, war sehr stark in seiner Zeit und an seinem Ort verhaftet. Seine Zeit, das war zunächst Österreich-Ungarn in seinen letzten Zügen (von Musil spöttisch „Kakanien“ genannt – Kraus scheint den Ausdruck nicht gekannt oder nicht verwendet zu haben), dann der Erste Weltkrieg (der dem unbedingten Pazifisten Kraus manches böse Wort gegen Schriftstellerkollegen entriss, die – mindestens bei Kriegsbeginn – in die patriotischen Kriegsverherrlichungsgesänge eingestimmt hatten), später die erste österreichische Republik (von Anfang an ein wackeliges Konstrukt – analog dem wackeligen Konstrukt der Weimarer Republik). Kraus ist bei Fischer der künstlerisch wie politisch konservativ-liberal ausgerichtete Mensch, ausgestattet allerdings mit einem rigiden Sinn für korrektes moralisches Verhalten. Auf Grund dieses Sinns prangert Kraus die Wiener Presse seiner Zeit ebenso an, wie Schriftsteller oder andere Prominenz. Sein Mittel ist die Satire, sein Medium die von ihm gegründete Zeitschrift Die Fackel, die er nach ein paar Jahren auch nur noch mit eigenen Beiträgen füllte. Es fällt aber auf, dass Kraus – jedenfalls so lange er überhaupt noch mit zeitgenössischer Literatur und Musik in Kontakt stand – sich vorwiegend im Kreise des so genannten ‚Jungen Wien‘ tummelte (Salten, Bahr, Schnitzler, Hofmannsthal – alles Autoren, die er später aus verschiedenen Gründen in der Fackel anprangern wird), mit Expressionisten zusammen arbeitete (Wedekind, Werfel – dann vor allem Trakl, den er sehr schätzte, und Lasker-Schüler), später auch mit Brecht, und musikalisch von Zwölftonkomponisten umgeben war (Arnold Schoenberg, Alban Berg, Anton Webern). Dabei waren seine Lieblinge in der Literatur eigentlich Shakespeare, Goethe, Jean Paul und Nestroy, in der Musik Jacques Offenbach. Ein Mann voller Gegensätze also. Kraus kannte jeden – und war mit jedem zweiten auch verkracht. Das Personenverzeichnis am Ende dieser Biografie liest sich wie ein ‚Who is who?‘ der (österreichischen) Kulturszene zwischen 1900 und 1930. Einige Namen sind im Schlagwort-Verzeichnis dieses Aperçu aufgelistet.

Kann man Kraus heute noch lesen? Vieles an seinen Schriften (das meiste aus der Fackel, zum Beispiel) ist äußerst zeitgebunden. So sind seine Äußerungen zum Judentum, bzw. seine spezielle Form des Antisemitismus (Kraus war einer jener aus jüdischer Familie stammenden Intellektuellen, die sich von ihrer jüdischen Herkunft lossagten – was ihn zu einem Beispiel des jüdischen Selbsthasses machte, den seine Zeit im Anschluss an Weiningers Geschlecht und Charakter bei vielen Juden festmachen zu können glaubte), die postulierte, dass der Antisemitismus von alleine verschwinden werde, wenn die Juden sich ohne Wenn und Aber äusserlich wie innerlich (also in ihrem Glauben!) ans christliche Europa assimiliert hätten. Die 1930er sollten ihn in Bezug auf Assimilation eines anderen belehren, was mit zu seinem relativ frühen Tod beigetragen haben kann.

Was also bleibt? Ohne erklärendes Personenverzeichnis wird man in der oft auf Tagesaktualitäten eingehenden Fackel wenig verstehen. Was gemäss Fischer bleiben sollte, sind seine Gedichte. Er zitiert ein paar – neoromantische Naturmeditationen, die mich nicht überzeugen. Vor allem aber (Fischer war von Haus aus Professor für Theaterwissenschaft an der Universität München!) seien es seine Dramen, die als literarische Denkmale Kraus‘ taugen. Die letzten Tage der Menschheit ein vielleicht unaufführbares Monster – viel zitiert (vor allem der Titel!), aber wenig gelesen (nein, auch ich habe mich noch nicht daran getraut). Ein Schicksal, das dieses Drama mit dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften von Kraus‘ Landsmann Musil teilt (mit dem er offenbar keine Berührungspunkte hatte).

Was bleibt? Kraus‘ Äußerungen zum Judentum sind nach dem Holocaust und der Gründung des Staates Israel obsolet. Seine Angriffe auf die verluderte Presse klingen in der Zeit von Fake-News zwar aktuell – Kraus hat aber immer nur die lokale, Wiener Presse gekannt und kann deshalb nicht auf heutige Verhältnisse umgemünzt werden.

Wer Kraus mag, wird sicherlich diese Biografie zu Rate ziehen müssen. Mir geht es mit Kraus leider ein wenig wie Canetti. (Ohne dass ich mich im Übrigen mit Canetti vergleichen wollte!) Ich war als junger Mann sehr von Kraus angefressen – vor allem von seinen manchmal wirklich herrlich bitter-bösen Aphorismen. Heute zirkulieren im Internet viele Kraus-Aphorismen. Ein paar der bekanntesten, die Fischer auch zitiert, stammen allerdings leider nicht von ihm. Ich war also einmal sehr angefressen von Kraus. Mit zunehmendem Alter wurde mir seine überbordende Streitsucht, sein Recht-haben-wollen-um-jeden-Preis aber immer suspekter. Auch Fischer muss zugeben, dass Kraus, wenn er sich einmal eine Meinung zu einem Sachverhalt oder einer Person gebildet hatte, von dieser Meinung nur selten mehr abrückte – und wenn, dann von einer positiven zu einer negativen Einstellung, das Umgekehrte kam bei Kraus kaum vor. Kraus war nie Politiker und seine ‚politische Intelligenz‘ war nicht größer (auch nicht kleiner, zugegeben) als die seiner Zeitgenossen. Dollfuß als Bollwerk gegen den deutschen Nationalsozialismus, gegen Hitler, zu verstehen, hieß, die Rolle Mussolinis im Hintergrund nicht zu sehen: Dollfuß, und nach ihm Schuschnigg, waren Autokraten von Mussolinis Gnaden – und als dieser seinerseits in Abhängigkeit vom zuerst bekämpften Hitler geriet, war es natürlich mit den Gnaden und dem Bollwerk vorbei. Aber hier ist der Historiker auch ein Prophet ex post. Es hätte in jener Zeit eine überdurchschnittliche politische Intelligenz gebraucht, die Entwicklung Österreichs vorher zu sehen. Kraus erlebte sie zu seinem Glück nicht mehr.

Sparsam illustriert, leicht lesbar.


Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Wien: Zsolnay, 2020. (In der Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg desselben Jahres.)

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