Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass Stand on Zanzibar im deutschen Sprachraum bedeutend weniger bekannt ist, als der acht Jahre später erschienene Shockwave Rider. (Allerdings kann ich meinen Eindruck nicht beweisen.) Vielleicht liegt es an der Übersetzung? Ich habe das Original gelesen, aber wenn ein Roman den Titel Morgenwelt trägt, erwarte ich wohl eher etwas (im schlechten Sinn) esoterisch Abgehobenes, jedenfalls nicht einen Roman mit der komplexen sprachlich-strukturellen Komposition wie dieser Roman hier tatsächlich aufweist.
Vielleicht ist es auch der Umstand, dass der 1968 erschienene Roman in einer nahen Zukunft spielt – so nahe in der Tat, dass die Zukunft der Morgenwelt für uns schon wieder Vergangenheit ist: Brunner lässt den Roman im Jahr 2010 spielen. So etwas birgt dann in sich die Gefahr, dass die Lesenden sich zu sehr daruf konzentrieren, herauszufinden, welche von Brunners Prophezeiungen eingetroffen seien und welche nicht. Seltsamerweise werden solche Probleme bei den Romanen von Philip K. Dick bedeutend weniger gewälzt, der doch auch viele seiner Geschichte in einer Zukunft handeln lässt, die für uns heute schon lange Vergangenheit ist. Das liegt daran, dass Dicks Zukunft viel fremder auf uns wirkt und wir sie gar nie richtig mit der Jahreszahl in Verbindung bringen, die ihr der Autor angeheftet hat.
Brunners Zukunft – und das ist die große Stärke von Brunners Roman als Roman, dessen große Schwäche als Science-Fiction-Roman – schildert eine Zukunft, die bedeutend weniger abgehoben ist. Sicher: Genetische Manipulationen des Erbguts auch bei Menschen und eugenische Maßnahmen, um die Weitergabe ’schlechter‘ Gene zu verhindern, sind in den meisten Ländern der Morgenwelt an der Tagesordnung. Der Personentransport ist schneller geworden, so dass man in Las Vegas wohnen kann und in Los Angeles arbeiten und doch nur die in vielen Teilen der Welt zur Gewohnheit gewordenen 1½ Stunden für den Weg zur Arbeit benötigt. In solchen und ähnlichen Kleinigkeiten unterscheidet sich Brunners Jahr 2010 selbst noch von unserem 2021. Dennoch riecht und schmeckt Brunners Welt verblüffend echt. Das liegt unter anderem daran, dass in Brunners Jahr 2010 noch immer politische Machtblöcke um die Vorherrschaft über die Erde kämpfen, dass noch immer Großkonzerne die Kontrolle über die Herstellung bzw. Schürfung von wichtigen Edelmetallen und Legierungen haben. Auch wenn die Großkonzerne andere sind, auch wenn Brunner die Entwicklung der politischen Blöcke ‚falsch‘ vorhergesagt hat.
Das alles aber sind Details. Selbst die Handlung(en) des Romans ist (sind) im Grunde genommen nebensächlich. Wirklich faszinierend ist Brunners Welt, ist Brunners Roman, auf Grund der Kompositionstechnik, die er anwendet. In kleinen Kapiteln, die bestenfalls ein paar Seiten umfassen, verwendet er verschiedenste Formen des Erzählens. Da ist auch der auktoriale Erzähler, der immer dann zum Handkuss kommt, wenn es darum geht, die Hauptstränge der Geschichte weiterzuführen. (Es gibt, grob gesagt, deren zwei, nachdem sich die Wege von Norman House und Donald Hogan getrennt haben, die zu Beginn noch ein gemeinsames Luxus-Appartement bewohnten.) Würden sie nur einfach so erzählt, wären diese Stränge banal, ja kitschig. Aber Brunner bettet sie ein in andere Kapitel, die sie immer wieder unterbrechen, und in denen er uns die Welt näher bringt, in der diese Menschen leben. Diese Kapitel sind ihrerseits wiederum aus einem Sammelsurium von Textsorten gebildet: Brunner liefert Ausschnitte aus Werbespots und TV-Nachrichten ebenso wie welche aus Gesetzestexten, wir überhören mit den Protagonisten Gesprächsfetzen an Partys, ja wir tauchen sogar in die ‚Gedankenwelt‘ ein des größten Super-Computers, den die Welt besitzt und der unsere Protagonisten in ihren Plänen unterstützt. An einem bestimmten Punkt der Erzählung liefert uns der Text auch plötzlich afrikanische Legenden (oder was der Autor dafür ausgibt). Es gibt daneben diese Geschichten um Nebenfiguren, die auftauchen und manchmal ohne weitere Spur wieder verschwinden – Nebenfiguren, die oft nur über viele Umwege mit den Hauptfiguren in Verbindung stehen, die aber einen wichtigen Aspekt dieser Welt des Jahres 2010 repräsentieren. Doch schlussendlich müssen die Lesenden selber die Welt des Jahres 2010 zusammensetzen. Sie ist – so viel wird rasch klar – außerhalb von ein paar geschützten Gebieten brutal. Mord und Totschlag sind in den Städten aller Länder an der Tagesordnung; sie sind auch ein gern angewendetes Mittel in der (Außen-)Politik eines Landes. In den kapitalistischen Ländern herrschen de facto ein paar große Konzerne. Drogen sind fast überall offiziell verboten, fast überall werden sie toleriert, weil Polizei und Regierende davon ausgehen, dass Bürger:innen, die Drogen nehmen, keine Bürger:innen sind, die Unruhen anzetteln oder gar Revolutionen. Haschisch kann sogar legal geraucht werden.
Diese Kompositionstechnik aber macht den Roman spannend und seine Welt realistisch. Wir erleben Brunners Welt des Jahres 2010, wie wir im Grunde genommen auch unsere ‚richtige‘ Welt erleben. Immer von irgendwo her mit Informationsfetzen versorgt, wenn nicht gar überflutet, sortieren wir diese ein und bilden aus einem Haufen von Puzzleteilen ‚unsere‘ Welt. Brunner hat das meines Wissens auch irgendwo zugegeben. Er hat nämlich (natürlich) die hier verwendete Technik nicht selber erfunden, sondern sie in sehr, sehr Vielem so in John Dos Passos‘ Romanen der U.S.A.-Trilogie gefunden, vor allem den beiden letzten, 1919 und The Big Money. Brunner brauchte sie nur noch den Erfordernissen einer Science-Fiction-Story anzupassen, indem seine Informationsfetzen vor allem Dinge betreffen, die den Lesenden von 1968 nicht bekannt waren, weil er sie ja gerade erst erfunden hatte. Diese Art, solche Dinge zu erklären, übertrifft aber jede andere, meist auktoriale Form des Erklärens um Längen.
Fazit: Ich kannte Brunner bisher nicht, bin aber von Stand on Zanzibar sehr angetan, vor allem was dessen Komposition betrifft. Es ist ein Science-Fiction-Roman, für dessen Lektüre Konzentration verlangt wird, der einen aber für diese Konzentration auch auf der ästhetisch-gestalterischen Ebene belohnt. (Mehr noch, offen gesagt, als bei der eigentlichen Story, die zwar gut gezeichnete und – meist – realistische Protagonisten umfasst (allerdings keine Frauen in den Hauptrollen!), diese aber in einigermaßen seltsame äußere Umstände stößt.)
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