Johann Nestroy: Der böse Geist Lumpazivagabundus

Nestroy wollte ich schon länger einmal hier vorstellen. Nun hat sich die Gelegenheit ergeben, dass ich zwischen zwei dickeren Büchern einen kürzeren Text einstellen kann; zugleich habe ich gerade in Jens Malte Fischers Kraus-Biografie wieder davon gelesen, wie Karl Kraus nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Nestroy wieder in Schwang gebracht hat – einen Nestroy eben, der mehr sein sollte, als ein Verfasser mittelmäßiger lokaler Wiener Schwänke, die man nach Belieben abändern und damit verhunzen konnte. Fischer weist darauf hin, dass Kraus diese Ehrenrettung tatsächlich gelungen war – wenigstens kurzfristig für ein paar Jahre bis zum Zusammenbruch der ersten österreichischen Republik wurde Nestroy nicht nur plötzlich auch am Burgtheater gespielt (das bisher mit mehr oder weniger Verachtung auf ihn herabgesehen hatte), sondern auch in andern Theatern im deutschen Sprachraum. Fischer weist aber auch darauf hin, dass diese Nestroy-Begeisterung nur ein relativ kurzes Strohfeuer darstellte – spätestens mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland oder dem „Anschluss“ Österreichs war es mit Nestroy auf den deutschen Bühnen zu Ende. Wohl gab es, so Fischer, nochmals eine kurze Phase der Begeisterung für Nestroy, in den 1960ern bis in die 1980er. Aber auch diese sei unterdessen verflogen.

Letzteres kann ich nicht beurteilen, da ich seit langen keine Theater-Spielpläne mehr verfolge – nicht einmal mehr die hiesigen. Ich erinnere mich sehr gut an diverse TV-Aufführungen mit dem genialen Helmuth Lohner in den ursprünglich von Nestroy selber gespielten Rollen – Aufführungen, auf die auch Fischer anspielt. Aber auch TV-Sendungen sind aus meinem Interessenkreis verschwunden; dennoch meine ich, dass diese relativ primitive Sendungsform des Abfilmens einer echten Theateraufführung (ob nun ‚live‘ oder zeitversetzt) heute sowieso als völlig veraltet und nicht mehr machbar gilt. Als Überbleibsel meiner in der Lohner-Zeit durchaus auch unabhängig von diesem Schauspieler vorhandenen Begeisterung für Nestroy befindet sich immer noch die kleine, aber feine 6-bändige Ausgabe der Komödien in meiner Bibliothek, die – herausgegeben von Franz H. Mautner – 1970 zum ersten Mal und 1981 in zweiter Auflage (meine Ausgabe) im Insel-Verlag erschienen ist. Und von Zeit zu Zeit blättere ich auch einmal darin.

Meine Ausgabe stammt also aus der Zeit der – wenn ich so sagen darf – zweiten Welle der Begeisterung für Nestroy im 20. Jahrhundert. Mautner, in einer kurzen, einfach mit Nestroy betitelten Einführung, ging damals davon aus, dass jenes Mal Nestroy wieder gekommen sei, um zu bleiben. Denn Nestroy sei so modern wie die damals jungen Frisch oder Dürrenmatt und gleichzeitig von der Art der Satire und der Parodie her so ‚klassisch‘ wie Brecht, Sternheim oder Büchner. Dass er damit implizit schon das Ende der Nestroy-Begeisterung auch für die zweite Welle vorhersagte, konnte er nicht ahnen. Aber es ist halt so: „Moderne“ Autoren haben es an sich, dass sie irgendwann (meist schon kurze Zeit nach ihrem Tod, wenn sie nichts Neues, noch Moderneres mehr liefern können) altmodisch sind und von den Gestellen der Buchhandlungen ebenso verschwinden wie aus den Repertoires der Bühnen. Und so ist Nestroy zusammen mit Frisch und Dürrenmatt ein weiteres, nunmehr drittes Mal von den Bühnen verschwunden.

Natürlich hat es das Publikum auch nicht einfach mit ihm. Seine Sprache ist so ganz wohl nur dem Wiener zugänglich, da viele seiner Figuren Wiener Dialekt sprechen. Und, wo sie es nicht tun, hat das bei Nestroy immer eine Bedeutung. Er kennt nämlich, grob gesagt, drei Sprachschichten, in denen seine Figuren reden. Da ist der schon angesprochene Dialekt, den die Figuren verwenden, die völlig bei und in sich rund sind – die einfachen Leute, um es vereinfacht zu formulieren. Dann ist da ein Standardhochdeutsch, das verwendet wird, wenn höhere Gesellschaftsschichten involviert sind. Schließlich ein – wie es Mautner nennt – Bühnenhochdeutsch: Eine in Grammatik und Wortschatz schwülstig aufgeblasene Sprache, die sich orientiert an der ebenso schwülstigen Sprache der Schiller-Epigonen auf der Bühne; Parodie bzw. Karikatur der Sprache, die meist auch auf die sie sprechende Person zurückfällt (manchmal allerdings auf die angesprochene Person). Diese Sprachschichten gehen munter durcheinander und es braucht ein gutes Ohr, sie auf der Stelle identifizieren zu können. (Ich bezweifle, offen gesagt, ob der Wiener des 21. Jahrhunderts in der Lage ist, die Sprachschichten des Wieners aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einwandfrei zu identifizieren.)

Als Lektüre habe ich zu einem der bekanntesten Stücke Nestroys gegriffen, wenn auch nicht zu einem seiner besten: Der böse Geist Lumpazivagabundus oder Das liederliche Kleeblatt, wie der vollständige Titel lautet. Noch hat sich Nestroy hier nicht aus den Netzen der so genannten „Alt-Wiener Zauberposse“ gelöst, aber er ist auf gutem Wege. Die Szenen im Feenreich bilden bereits nur noch den Rahmen für den eigentlichen Inhalt, und es ist bezeichnend für Nestroy, dass der titelgebende böse Geist Lumpazivagabundus nur im ersten Teil des Rahmens einen Auftritt kennt – danach wird seine Gegenwart überflüssig.

Den Inhalt kann man im Internet nachlesen. Es geht, kurz gesagt, darum, dass junge Leute (junge Männer) lieber ihr Geld verspielen, vertrinken und mit Frauen vertun, als sich ehrbar ihrem Handwerk zu widmen. Nur die Liebe zu einer ehrbaren und rechtschaffenen Frau, so die Prämisse des Spiels, ist in der Lage, aus den jungen Tunichtguts ebenso ehrbare und rechtschaffene Männer und Meister ihres Handwerks zu machen. Exemplifiziert wird das an der Geschichte dreier Handwerksburschen auf der Walz. Von den dreien hat jeder seine ganz persönlichen Gründe, warum er auf der Straße steht: Leim hat sein Bündel hingeworfen, als die Tochter seines Meisters, in die er verliebt ist, offenbar einen anderen heiraten soll; Zwirn geht ein lustiges Leben prinzipiell über alles, und also auch übers Sesshaft-Werden; Knieriem schließlich (Nestroys Rolle!) glaubt daran, dass in einem Jahr ein Komet die Erde vernichten wird und es also sowieso keine Rolle spielt, ob er nun sein Geld anspart oder vertrinkt. (Im letzten Akt, der ein Jahr später spielt, glaubt er übrigens immer noch daran, dass in einem Jahr der Komet die Erde treffen wird.)

Es zeigt sich, dass Leim, der seine Geliebte dann doch noch heiraten kann, tatsächlich ehrbar und sesshaft wird. Den beiden anderen aber ist nicht mit Güte und nicht mit Gewalt beizukommen. Die Szenen im einfachen Volk, deren es einige gibt in diesem Stück, zeichnen sich bereits durch eine durchaus realistische Sicht auf eben dieses aus. Lustig macht sich Nestroy nur über jene, die höher hinaus wollen, als es ihnen zukommt und die dabei ihre geistige Unbedarftheit verraten.

Der Schluss des Stücks in der Druckausgabe zeigt in einem Tableau, wie die Fee der Liebe, Amorosa, die schon Leim vor dem Versumpfen gerettet hat, auch die beiden anderen mit einer Frau und einer Stellung als Meister versorgt hat. Man hat das oft als Konzession Nestroys an sein Publikum gesehen. Aber diese Szene wird derart unvermittelt eingeführt, und das Idyll dreier verheirateter Meister derart übertrieben geschildert, dass ich nicht anders kann, als hier eine weitere Parodie Nestroys zu sehen – eben gerade auf die vom Publikum so vehement geforderten glücklichen Enden. Zwirn und Knieriem sind ja keine verzweifelten Gestalten. Sie sind sich ihrer Liederlichkeit durchaus bewusst. Aber: Sie leben ihr Leben und niemand kann oder soll ihnen da hineinreden. Alles andere ist (Theater-)Illusion. Man kann sagen, dass Nestroy schon früh im Hinblick auf eine öffentliche, bürgerliche Moral ein hoffnungsloser Zyniker und Pessimist war. Vielleicht mag ich ihn deshalb.

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