Graham Greene: Travels With My Aunt [Reisen mit meiner Tante]

Henry Pulling ist ein Mann in seinen Fünfzigern. Er war einmal Leiter einer kleinen Bankfiliale in einem Londoner Außenbezirk; jetzt ist er frühpensioniert, weil die Filiale geschlossen wurde, nachdem ihr einziger Großkunde (dessen Protegé Pulling war) verstorben ist und es keinen Grund mehr gibt, die Filiale weiter zu betreiben. Pulling lebt nun ein zurückgezogenes Leben in einem kleinen Häuschen in eben jenem Außenbezirk. Er züchtet Dahlien und liest das Satiremagazin Punch, nicht ohne Gott und den Herausgebern dafür zu danken, dass der allzu regierungskritische Kurs, den das Magazin noch vor einigen Jahren gefahren hatte, unter einer neuen Leitung wieder korrigiert wurde. Ansonsten ereignet sich in seinem Leben genau – gar nichts.

Eigentlich hat sich darin noch nie etwas ereignet – bis zu jenem Tag, an dem die Begräbnisfeier seiner Mutter stattfindet und er auf seine einzige noch lebende Verwandte trifft: die im Vergleich zur Mutter einige Jahre ältere Schwester eben dieser, Tante Augusta. Nach der Feier fahren sie zusammen zu ihrer Wohnung, wo ein auch nicht mehr ganz junger, aber doch beträchtlich jüngerer Schwarzer auf Augusta wartet. (Wir befinden uns in einer Epoche, in der „schwarz“ das politisch korrekte Epitheton für Personen mit dunkler Hautfarbe war.) Rasch wird Henry Pulling klar, dass dieser Mann nicht nur als Butler und Koch fungiert, sondern auch Tante Augustas Geliebter ist. Er heißt Wordsworth (während Pullings Lieblingspoeten eigentlich Tennyson und Walter Scott sind). Fast genau so rasch, wie er die verschiedenen Funktionen, die Wordsworth im Haushalt seiner Tante ausübt, zu unterscheiden vermag, erkennt Pulling auch, dass seine Tante Augusta ein eher unkonventionelles Leben führt. So zum Beispiel scheint sie fast immer auf Reisen zu sein und ganz Europa zu kennen. Schon bald stimmt Henry zu, sie auf einer Reise zu begleiten – er, der in all den Jahrzehnten seines Lebens kaum aus London herausgekommen ist. Die erste gemeinsame Reise ist eher noch eine schüchterne; es geht nur bis Brighton. Schon dort wundert sich Henry allerdings nicht nur über all die seltsamen Gestalten, die Augusta zu kennen scheint; er wundert sich auch über all die seltsamen Geschichten, die seine Tante zu erzählen weiß. (Wobei es ein Trick des Autors ist, sie ihre Geschichten immer wieder abbrechen zu lassen, weil sie von einem Thema zum andern mäandert. Ein Trick oder Tick, der allerdings auch dem Ich-Erzähler Henry auffällt.)

Die zweite Reise dauert schon länger; das ungleiche Paar fährt mit dem Orient-Express bis Istanbul. Dort dämmert es Henry, dass seine Tante nicht nur unkonventionell ist, sondern offenbar auch über eine beträchtliche kriminelle Energie verfügt. Die Expedition in die Türkei erreicht zwar das ursprüngliche Ziel der Dame nicht – das illegal mitgenommene Geld, das sie einem alten General für einen Putsch zur Verfügung stellen wollte, können sie zwar diesmal noch retten; der General aber, der seinen Putschversuch zu früh gestartet hatte, ist dabei angeschossen worden und wird seinen Verletzungen im Lauf der Erzählung noch erliegen, ohne dass ihn Henry oder der Leser näher kennen lernen.

Und so geht es weiter: Vom Haschisch, das der schwarze Butler in die Urne mit der Asche von Henrys Mutter streut, um einer polizeilichen Hausdurchsuchung zu entkommen bis zu groß angelegtem Schmuggel in Paraguay macht Henry alles mit, wobei er zugeben muss, dass er mehr und mehr Gefallen daran findet. Seine Bankkarriere kommt sogar ihm selber immer seltsamer vor; und er überlegt sich eines Tages, wie sein Leben hätte sein können, hätte er sich seinen Jugendwunsch erfüllt, Autor zu werden. So ein richtiger, wie seine geliebten Viktiorianer. Vielleicht nicht gerade so einer wie Wordsworth oder Tennyson. Aber so einer wie Robert Louis Stevenson. Oder vielleicht ein noch minderer. (Dazu muss man allerdings wissen, dass Greene über ein paar Ecken mit Stevenson verwandt war.) Den Schluss will ich hier nicht verraten – wer das Buch nicht lesen will, kann ihn bei Wikipedia finden.

Das Buch wurde 1969 veröffentlicht und gehört somit zu den späten Werken Graham Greenes, in denen er auf sein Katholisieren verzichtet, dafür aber seiner Liebe zu schwarzem und makabrem Humor freien Lauf lässt. Dennoch, oder gerade deswegen, ist ‚Liebe‘ das eigentliche Thema der Geschichte – der Umstand, dass vor allem Tante Augusta, wenn sie liebt, aus vollem Herzen liebt und es dann auch klaglos akzeptiert, wenn der Geliebte sie finanziell in den Ruin treibt. Der Roman enthält ansonsten keine Botschaft (außer, man wolle darin einen Aufruf sehen zu einem schönen, aber gefährlichen Leben außerhalb der Gesetze), ist aber gut gemachte Unterhaltung für einen Sonntag am Kaminfeuer.

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