Dieter Birnbacher: Schopenhauer

Eine Einführung – so der Untertitel. Um genau zu sein gibt Birnbacher auf den rund 185 Seiten dieses kleinen Reclam-Büchleins nicht nur eine Einführung in Schopenhauers Werk (sein Leben bleibt – mit Ausnahme einer kurzen Zeittafel ganz am Schluss – außen vor), er versucht gleichzeitig, die Aktualität von Schopenhauers Denken aufzuweisen. Das tut er, indem er ihn einerseits in die Nähe des Existenzialismus rückt – vermittelt durch Nietzsche und vor allem Kierkegaard, die beide von ihm gelernt haben. Auf der anderen Seite stellt er ihn auch in die Ahnenreihe der analytischen Philosophie, indem er in drei Kapiteln Schopenhauer als Analytiker des Sprachgebrauchs vorstellt. Ebenfalls ist Schopenhauer in Birnbachers Darstellung einer der ersten (oder der erste?) Philosophen, der den Gedanken der Evolution in die Philosophie einbezieht. (Wir sind noch in der Zeit vor Charles Darwin; es ist also eine Evolutionstheorie Lamarck’scher Ausprägung, die Schopenhauer annimmt. Das spielt für sein Denken keine Rolle – wichtig ist in diesem Zusammenhang gemäß Birnbacher nur, dass Schopenhauer so auf die wichtige Idee eines graduellen Übergangs von Tier zu Mensch kommt und deshalb auch als einer der ersten Vertreter der Rechte der Tiere in der Philosophie da steht.) Das alles klingt in meiner verkürzten Zusammenfassung mehr an den Haaren herbei gezogen, als es im Text selber ist.

Um Birnbachers Einführung zu verstehen, muss man nicht viel Philosophie gelesen haben. Er betont zwar immer wieder, dass Schopenhauer sich als getreuen (als einzig getreuen!) Schüler und Nachfolger Kants gesehen hat und prüft das auch an Schopenhauers Texten nach. (Sein Fazit, nebenbei: Es stimmt nicht ganz. In der Epistemologie folgt Schopenhauer Kant zwar fast bis ins Detail; in der Ethik aber kritisiert er sein Vorbild scharf und weicht stark von ihm ab.) Man muss nicht viel Philosophie gelesen haben, habe ich gesagt. Dies, weil Birnbacher, wo es für das Verständnis von Schopenhauer wichtig ist, auch Kants Argumente kurz darstellt, man also den Vergleich vor sich hat. Andere Philosophen des Deutschen Idealismus werden erwähnt; da aber Schopenhauer allenfalls gegen sie polemisiert und nicht argumentiert, müssen sie auch nicht näher vorgestellt werden. Dass Birnbacher in seiner Darstellung das Schwergewicht auf Themen legt, die zu den Forschungs-Schwerpunkten des nunmehr emeritierten Professors für Philosophie gehörten, ist soweit verständlich. Eine breiter aufgestellte Einführung hätte wohl weitere Philosoph:innen hinzu ziehen müssen und wäre länger ausgefallen. Immerhin kann ich mir vorstellen, dass die aktuelle Form den einen oder die andere Studierende:n tatsächlich an Schopenhauer heran lockt.

Das Büchlein beinhaltet folgende Kapitel:

  • Schopenhauer – ein Denker des Übergangs
  • Schopenhauer – ein Denker der Gegensätze
  • Anthropologie des Willen: die sekundäre Rolle der Vernunft
  • »Wille« als allgemeine Dynamik
  • Schopenhauer als Analytiker I: der Satz vom Grund
  • Schopenhauer als Analytiker II: Freiheitstheorie
  • Schopenhauer als Analytiker III: Sprachkritik
  • Leiden und Erlösung vom Leiden
  • Mitleidsethik

Eine trotz – oder vielleicht auch wegen – ihrer Kürze durchaus empfehlenswerte Einführung, die auch zum Mit- und Nachdenken anregt. Einziger Wermutstropfen ist der Umstand, dass Schopenhauers Werke nur mit Bandnummer nach der Zürcher Ausgabe von 1977 zitiert werden (womit jeder, der eine andere Ausgabe besitzt, von einem Nachlesen und Vertiefen ausgeschlossen wird); ebenso wird Kant mit Bandnummer, aber ohne Angabe des Titels der zitierten Schrift, nach der Akademieausgabe zitiert. Somit werden Studierende der Philosophie (und das ist doch wohl – siehe weiter oben – das primär anvisierte Publikum) ausgeschlossen, sofern sie das Büchlein nicht an einem Institut mit Bibliothek vor Ort lesen und die teuren Ausgaben dort konsultieren können. Da könnte man nachbessern, indem man in beiden Fällen Titel des zitierten Werks und – gerade am Beispiel der Werke Kants ist das meiner Meinung nach heute Usus – Paginierung der Originalausgabe angibt.


Dieter Birnbacher: Schopenhauer. Eine Einführung. Ditzingen: Reclam, 2. erweitere und bibliografisch ergänzte Ausgabe 2020. (= RUB 19696)