Nachdem der Gedanke, die Jahrestage in einem Band zu veröffentlichen, schon früh aufgegeben wurde angesichts der schieren Menge an Material, das Uwe Johnson verarbeiten wollte, können wir hier nun miterleben, wie auch die darauf folgende Idee einer Publikation in drei Bänden grandios zusammenkracht. Schuld daran hat wohl die Schreibblockade, die von Johnson Besitz ergriff und die eine veritable Lebenskrise bedeutete, die er eigentlich nicht mehr überwinden sollte und die Johnsons ganze Existenz zerstörte: Alkohol- und Medikamentenmissbrauch mit daraus resultierenden paranoiden Zuständen und akutem Geldmangel.
Schon früh in Band III merken die Lesenden, dass etwas anders ist. Eigentlich sogar einiges anders ist. Hatte ich noch gerade für Band II notiert: Mit dem II. Buch hat Uwe Johnson seinen Erzählrhythmus endgültig gefunden. Tag um Tag erzählt er aus dem Leben von Gesine Cresspahl in New York […], so ist das mit Band III schon wieder vorbei. Was jede Zusammenfassung oder Kritik des Buchs als konstitutiv für alle vier Teile erwähnt: Die tägliche Struktur mit einleitenden Zitaten aus der New York Times, Ereignissen aus New York und den USA sowie Erinnerungen an das Leben Gesine Cresspahls, ist tatsächlich nur im zweiten Teil von Band I anzutreffen, sowie in Band II. Für Band III aber gilt: Die New York Times als Kompass, Berichterstatterin und tägliche Einleitung existiert de facto kaum mehr. Mit ihr treten der Vietnam-Krieg in den Hintergrund, tritt Lyndon B. Johnson in den Hintergrund, treten die Studentenproteste in den Hintergrund (die gerade vor einem Monat noch so wichtig waren für Gesine und Marie), tritt der US-amerikanische Alltagsrassismus in den Hintergrund. Die Überschriften der Kleinkapitel sind zwar immer noch an der Abfolge der Tage des Jahres 1968 orientiert. Aber sie wirken nun seltsam sinnlos.
Was hingegen den ganzen Band III überwuchert, ist die Erzählung der Ereignisse seit dem Moment, als die Sowjets in Jerichow, der mecklenburgischen Heimatstadt Gesines, eine Kommandantur errichten. Der Stadtkommandant ernennt Gesines Vater zum Bürgermeister, wird ihn aber später in ein Lager deportieren lassen. All dies – die Tatsache, dass Jerichows Einwohner plötzlich mit den Toten konfrontiert werden, die die Sowjets nunmehr öffentlich aus den Lagern durch die Stadt führen lassen; die Mangellage, die sich schon bald einstellt; die Willkür des Stadtkommandanten – wird im Detail erzählt. Hat Johnson schon in Band I der Jahrestage ganze vier Monate der (sozusagen) aktuellen Zeit Gesines in New York damit zugebracht, Gesine zur Welt kommen zu lassen, so lässt er sich nun noch mehr Zeit, nämlich rund zwei Monate von Gesines aktueller Zeit, um die Sowjets Fuß fassen zu lassen und ihr Regime einzurichten. Im Grunde genommen haben wir in Band III einen historischen Roman über jene Zeit von uns.
Ich finde solche Bemerkungen ja selber eigentlich sehr unpassend –, aber mir will scheinen, dass sich Johnson hier an einem ganz persönlichen Trauma abarbeitete, was ihn vielleicht in die Krise führte, vielleicht schon Symptom der Krise war. Dass er, ganz nebenbei, den Deutschen abermals suggerierte, dass vor allem sie ja die Opfer des Nationalsozialismus und seiner Folgen waren, will ich hier nur erwähnt haben.
Zeitgenössisches (ich meine, aus der aktuellen Zeit Gesines in New York) spielt vor allem in der Berichterstattung über die Ereignisse rund um den Prager Frühling eine Rolle. Eher andeutungsweise allerdings wird hier klar, welche Hoffnung linke Liberale in dieses Phänomen setzten, wenn sie darin offenbar eine valable, weil gemäßigte Alternative zum rigiden Staatskommunismus des übrigen Ostblocks erblickten.
Ein einziges Mal geht Johnson noch in großem Stil auf aktuelle Ereignisse der USA ein, das ist bei der Ermordung des US-amerikanischen Senators und Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy, der gerade die Vorwahlen in Kalifornien gewonnen hatte. Vor allem Marie entwickelt einen wahren Kult um den Toten, mietet sich sogar für sich selber einen TV-Apparat (Cresspahls hatten sonst keinen), um die Untersuchungen verfolgen zu können. Warum? Und warum nicht anlässlich der Ermordung von Martin Luther King? Maries Antwort, als ihr D. E. diese Frage stellt: „Weil ich über Robert F. Kennedy mehr weiß.“ Aus heutiger Sicht betrachtet hat Johnson hier aufs falsche Pferd gesetzt. Im Jahre 2024 wissen wir schon bald nicht mehr, wer die Familie Kennedy war, ihre Aura als Hoffnungsträgerin einer Nation ist längst in der seriösen Geschichtsforschung versunken. Martin Luther King aber ist immer noch eine der inspirierenden Figuren der schwarzen Menschenrechtsbewegung nicht nur in den USA. Ein impliziter Rassismus von Seiten Maries also? Ja. Aber von Johnson nicht herausgestellt, vielleicht nicht bemerkt, vielleicht auch geteilt.
Darf ich wagen, zu sagen, dass ich enttäuscht bin? Sicherlich, auch John Dos Passos hat mit seiner U.S.A.-Trilogie drei Romane abgeliefert, die jeder für sich in ganz anderem Stil abgefasst war. Aber das war von Anfang an so geplant gewesen. Sicherlich, James Joyce hat für seinen Ulysses gar 24 Kapitel in einem je eigenen Stil geschrieben. Aber wiederum: Es war von Anfang an so geplant gewesen. Hier, im dritten Buch der Jahrestage, explodieren gerade ein Text und ein poetologisches Konzept. Siegfried Unseld, meint Wikipedia, sah in dem Werk über ein ,Weltjahr‘ den bisher ,letzten Epochenroman‘ und verglich ihn mit James Joyce’ »Ulysses« über einen ,Welttag‘ […]. Unseld ist aber Partei. Er wollte, nein: musste, den Roman ja verkaufen. Aber objektiv betrachtet, Herr Unseld: Das Weltjahr hat Johnson verlassen, als er sich in Band III auf Robert F. Kennedy konzentrierte und den Prager Frühling. Die Ermordung des US-amerikanischen Senators Kennedy bildete letzten Endes so wenig Epoche wie der Prager Frühling. Oder die Details einer Machtübernahme der Sowjets in der mecklenburgischen Provinz. Ja, ich bin enttäuscht. Nicht einmal so sehr wegen des Romans als solchem. Der könnte, mit ein paar kleinen Eingriffen, sogar gut sein: Es hätte genügt, die ganze Einteilung in einzelne Erzähltage zu eliminieren und den Roman als Einzelroman und allenfalls indirekte Fortsetzung der Jahrestage zu deklarieren, zum Beispiel unter dem Titel Cresspahl oder Mecklenburg – New York zu verkaufen. Der Verlag aber wollte lieber krampfhaft am ‚Weltroman‘ festhalten. Schade.
Wow. Kennedys Ermordung und der Prager Frühling bilden keine Epoche? Seh ich deutlich anders, aber wenn man nur das eine oder das andere als Epoche sehen will, und zwar nur aus der Sicht von heute, dann ist das vielleicht so. In Wahrheit finde ich aber, wir, die wir wissen, wie die Geschichte ablief, wir also wissen, wie die Welle brechen wird, verlangen von Uwe Johnson hier, der er noch auf dem Wellenkamm der Geschichte sich befindet, zu wissen, wie die Welle brechen wird. Das ist Quatsch, wenn es auch vielleicht bedeutet, einige dieser Werke, die geschrieben wurde, als die Welle der Geschichte sich noch nicht entschieden hatte zu brechen, dann überholt wirken und bedeutungslos werden können.
Vielleicht wollte Johnson selber darauf hinweisen mit diesem Zitat ganz am Anfang?
> Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen. Der straffe Überschlag, schon weißlich gestriemt, umwickelt einen runden Hohlraum Luft, der von der klaren Masse zerdrückt wird, als sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden.
Was ist übrigens mit dem Deutsch Johnsons? In bislang keiner deiner Rezensionen äusserst Du Dich darüber, oder habe ich das überlesen? Ist für mich das beste, das ich kenne und jemals gelesen habe (übertrifft sogar, wenn auch völlig grundverschieden, Manns Joseph und seine Brüder, finde ich.
Vor ca. einem Jahr wurde übrigens in Amerika grandios gefeiert, daß Johnsons Jahrestage endlich komplett ins Englische übertragen wurden. Insbesondere die New Yorker Literaturszene überschlug sich vor Freude, fand ich. Warum nur, wenn der Roman so schlecht ist?