Millay Hyatt: Nachtzugtage

Fotografie: Ein Personenzug fährt in der Nacht an einem bewaldeten Berghang unter einem Förderband hindurch in ein Tunnel ein. Für das Buchcover wurde das Foto auf die linke Schmalseite gekippt. Deswegen zeigt der gewählte Ausschnitt daraus zunächst links ein Stück dunkelblauen Nachthimmel. Es folgen rechts davon Silhouetten von Bäumen, die sich gegen den Nachthimmel abzeichnen. Daneben (also eigentlich darunter) eine Tragstütze und ein Teil des Förderbandes aus Metall. Über der Tragstütze können wir noch zwei erleuchtete Fenster und das Dach eines Eisenbahnwaggons erkennen. Letzteres ist ein bisschen heller als der Rest. Der rechts daneben (bzw. eben darunter) liegende Hügel ist nur als dunkle Masse zu erahnen.

Nein, sie macht nicht die Nacht zum Tage, wie ich den Titel zuerst gelesen hatte. Sie verbringt ihre Tage im Nachtzug. (Und nein: Diese Tage haben keinen Bezug zum Menstruationszyklus.) Tatsächlich reist die in den USA geborene und in Deutschland aufgewachsene Autorin Millay Hyatt seit Jahren, ja Jahrzehnten, mit dem Zug durch Europa. (Ob sie in irgendeiner Form mit dem Namensgeber der berühmten Hotelkette verwandt ist, weiß ich nicht, glaube es aber nicht, weil das sicherlich irgendwo in der Werbung für Millay Hyatt oder eines ihrer Werke angeführt worden wäre.)

Das Buch berichtet in 13 Kapiteln von solchen Reisen. Hyatt reist alleine, selten zu zweit (und dann ist der Reisebegleiter meist ihr Sohn). Da sie nicht nur rasch von ihrem Zuhause in Berlin Kreuzberg nach Pankow fährt sondern wirklich lange Strecken bis Tunis oder Tiflis, ist es nur natürlich, dass sie Nachtzüge benutzt. Ihre bevorzugten Ziele liegen offenbar im Süden und Südosten Europas. Eine Reise nach Edinburgh durch den Euro-Tunnel stellt da schon eine Ausnahme dar.

Wenn 13 Reisen auf rund 230 Seiten geschildert werden, wird wohl niemand erwarten, dass Hyatt die besuchten Städte (es sind praktisch immer Städte, von denen sie erzählt) in der einen oder anderen Form näher vorstellt. Tatsächlich liegt das Schwergewicht bei jeder Reise darauf, ob und wie die Autorin am Ziel angekommen ist. Anders gesagt: Sie schwelgt in Erinnerungen an Verspätungen, Zugausfälle, Verbindungswechsel und ihrer Reaktion darauf, der Reaktion von Bahnpersonal, Mitreisenden und zufällig Anwesenden.

Man sollte dieses Buch nicht, wie ich es leider gemacht habe, in einem Zug(!) durchlesen. Einerseits kommt man fürchterlich durcheinander, welche Verspätung aus welchem Grund nun bei welcher Reise stattgefunden hat. Andererseits fällt es dann viel zu sehr auf, wie egozentrisch Hyatts Berichte im Grunde genommen aufgebaut sind. Selbst wenn ihr fünfjähriger Sohn sie auf der Reise begleitet, erfahren wir von diesem nicht viel mehr, als dass er ungeheuer fasziniert ist von – Geleisen, egal ob Zug oder Straßenbahn. Er hindert seine Mutter so daran, andere Sachen zu besichtigen (von denen sie uns dann sowieso nur flüchtig und oberflächlich berichtet hätte). Jede Verspätung mag in sich komisches Potenzial aufweisen, aber deren Häufung langweilt und nervt. Man sollte wohl zwischen den Kapiteln eine Pause von mindestens einem Jahr oder zwei einlegen.

Ich habe das Buch in der Lizenzausgabe der Büchergilde gelesen, wie es dieses Jahr (2025) erschienen ist. (Der Originalverlag war 2024 die Friedenauer Presse, ein Imprint von Matthes & Seitz.) Die Büchergilde hat das Buch in die seit der Pandemie erscheinende Reihe BÜCHERGILDE unterwegs eingeordnet. Deren Herausgeberin, Julia Finkernagel, schrieb auch dieses Mal ein Vorwort. Sie ist selber viel gereist, das will ich ihr zugestehen. Ihren auch schon monierten Hang, die Erlebnisse ‚ihrer‘ Autor:innen mit eigenen übertrumpfen zu müssen, kann sie aber auch im diesem Vorwort hier nicht unterdrücken. So hält sie fest, dass sie Millay Hyatt eine Zugreise voraus hätte: die Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Und zwar, ich zitiere wörtlich: Mit schneebedeckter sibirischer Weite, russischer Teezeremonie und Wodka im Speisewagen.

Schon da schrillten bei mir die Alarmglocken der Erinnerung. Es war der Wodka in der Transsibirischen Eisenbahn, den sich jene anderen beiden nicht mehr leisten konnten, der mich auf die Spur brachte. Zugegeben: Der Satz kam zu früh und hat vielleicht meine Rezeption des Hyatt’schen Textes zu sehr beeinflusst (wobei Finkernagel ja für dessen repetitiven Aspekt, dessen ständige Wiederholung des immer Gleichen, die schon fast an Nietzsche erinnert, nichts kann). Aber hier hatte ich ihn wieder, bei der Herausgeberin wie nachher bei der Autorin, jenen nassforschen Tonfall, den der Herausgeber in jenem anderen Reisebericht feststellen konnte und musste: im Bericht von ihrer Weltreise, den die Mann Twins vor rund hundert Jahren ablieferten. Erika und Klaus Mann waren zu der Zeit noch verwöhnte junge Schnösel, die der weitere Verlauf der Weltgeschichte erst ernst werden ließ. Aber der flapsige Tonfall, der nicht gerade geringe Egoismus, fallen leider auch im Text von Millay Hyatt auf – und in dem der Herausgeberin. Wir erfahren zu wenig von der Welt, die Hyatt bereist hat, zu wenig von den anderen Menschen, zu wenig von den Städten, Ländern und Gegenden. Zu viel von ihrem ständigen Pech mit nicht eingehaltenen Zugverbindungen.

Noch anders formuliert: Unter dem Lesen hatte ich mehr und mehr das Gefühl, Skripts von YouTuber:innen oder TikToker:innen zu lesen. Das sind dann diese ‚Reisefilme‘, die darin bestehen, dass ausführlich das Bett im Schlafwagenabteil gefilmt wird, ein Blick aus dem stockdunklen Fenster uns zeigt, dass draußen wirklich Nacht ist und man zum Schluss noch im Spiegel zuschauen darf, wie sich die den Film erstellende Person beim Zähneputzen filmt. Man muss so etwas schon mögen und zwischendurch ist es sicher eine witzige Abwechslung, auch sind solche Filmchen interessanter als reine Worte. Die Büchergilde hat in ihrer Reihe jedenfalls schon bedeutend Interessanteres geliefert. Vielleicht bin ich in diesem Fall auch einfach nicht das Zielpublikum.


Millay Hyatt: Nachtzugtage. Frankfurt/M et al.: Büchergilde Gutenberg, 2025.

PS. Noch ein Wort zur Kurzbiografie der Autorin, wie sie in diesem Büchlein am Ende abgedruckt ist. Es heißt da gleich im ersten Satz, Millay Hyatt sei promovierte Philosophin. Derselbe Satz kommt auch in der Autorinnen-Vorstellung auf der Homepage von Matthes &Seitz vor, woher er wohl auch stammt. Das stimmt aber nicht überein mit den eigenen Angaben der Autorin auf ihrer eigenen Homepage, wo sie gemäß eigener Vita zwar das Diplom einer Jung-Gesellin in Philosophie und Französisch inne hat, das Meisterinnen-Diplom und die Promotion aber in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft ablegte. Da hat wohl die Marketing-Abteilung bei Matthes & Seitz geschludert, einem Verlag, den ich im Übrigen sehr schätze.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 6

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