Daniel Defoe: A Journal of the Plague Year [Die Pest zu / in London]

Es war zu erwarten, dass dieser Text früher oder später den Weg auch auf meinen Schreibtisch finden würde. Während rund 300 Jahren kannten zumindest die MitteleuropäerInnen von Daniel Defoe eigentlich nur den Robinson Crusoe, und auch den wohl oft nur in einer der vielen existierenden Fassungen für Kinder. Über die Qualität der Originalfassung wird man heute wohl eher negativ urteilen (s. den Beitrag von scheichsbeutel in diesem Blog vor nunmehr auch schon bald 8 Jahren). Allerdings bin ich persönlich nicht sicher, ob Defoe tatsächlich einen Roman bzw. nur einen Roman schreiben wollte. Defoe war, was man heute in Talkrunden im TV als „Essayist“ ankündigen würde, oder als „Publizist“. Es ging ihm in seinen Werken nicht in erster Linie um künstlerische Aspekte – er wollte sein Publikum aufklären. Und zwar in seinem Sinn aufklären, denn er war immer Partei. Um diese Aufklärung zu erreichen verstand er es, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden – seine Botschaft in ein interessantes Kleid zu hüllen.

So auch in seinem Buch über den letzten großen Ausbruch der Pest in London. Unmittelbarer Anlass dafür war ein erneuter Ausbruch der Beulenpest 1720 in Marseille. Das konnte passieren, weil die Behörden wider besseres Wissen und auf Druck einiger mächtiger Kaufleute, die die an Bord befindlichen Waren dringend für eine Messe brauchten, ein Handelsschiff aus der Levante frühzeitig aus der Quarantäne entließen, unter welche eigentlich seit den Ereignissen runde 60 Jahre früher jedes Schiff rigoros gestellt wurde. Defoe, der die große Pest in London noch erlebt hatte, schwante offenbar Schlimmes. Er war aber als Publizist gewieft genug, zu wissen, dass ein trockener Bericht darüber, wie 1665 die Pest in London ankam und für ein volles Jahr wütete, und dass man sich das als Warnung dienen lassen müsse, das Publikum kaum interessieren würde. Er selber war zur Zeit der Pest erst fünf oder sechs Jahre alt gewesen, konnte sich also wohl kaum an etwas erinnern. Aber da war offenbar ein Tagebuch, das sein Onkel Henry Foe geführt hatte, der tatsächlich zu jener Zeit in London gelebt hatte und der tatsächlich zu jenem Teil der Londoner Bevölkerung gehörte, der trotz der Ansteckungsgefahr in der Stadt blieb. Dieses Tagebuch – wahrscheinlich umformuliert – wurde mit Statistiken und Zeitungsberichten von 1665 amalgamiert und 1772 veröffentlicht. (Die Pest von Marseille sollte der bis heute letzte grosse Ausbruch der Krankheit auf europäischem Boden gewesen sein und war relativ rasch unter Kontrolle. Was London betrifft, geht man heute davon aus, dass dem Erreger bzw. seinen Trägern und Überträgern, den Ratten und Mäusen der dichtbevölkerten Stadt, spätestens beim großen Brand von London ein Jahr später und nachdem die Infektionskurve sowieso schon schon stark gesunken war, endgültig der Garaus gemacht wurde. Die neuen Bauten wurden dann großzügiger und luftiger angelegt, womit die Gefahr eines erneuten Ausbruchs ebenfalls vermindert wurde.)

Übrigens geht schon Defoe in diesem Buch davon aus, dass wohl kleinste Lebewesen, die nur im Mikroskop sichtbar wären, die Erreger der Pest sein könnten – und dass sie (auch) über Tröpfcheninfektion übertragen werden könnte (er kannte nur das Wort „Tröpfcheninfektion“ nicht). Allerdings dachte er sie sich in Form von kleinen Drachen und anderen Ungeheuern. Was mich zu einer kleinen Zwischenbemerkung führt: 1665 war das Jahr, in dem Robert Hooke sein Buch Micrographia veröffentlichte, in dem er seine erstaunlichen Sichten im Mikroskop schilderte. Und es war das Jahr, in dem Isaac Newton begann, auf sein Home-Office reduziert, seine Theorien zur Infinitesimalrechnung, zur Optik und zur Gravitation zu entwickeln. Wie weit Defoe davon wusste, kann ich nicht sagen.

Daneben fällt auf, dass, genau wie im Robinson Crusoe, Defoe auch im Bericht über die Pest in London eine sehr eigene, heute eher seltsam anmutende Weltanschauung vertritt – eine Mischung aus streng puritanischem Christentum und aufkärerischem Glauben an die Möglichkeiten der Wissenschaft. Als Christ war er strikter Vertreter der Prädestinationslehre (wie es auch sein Tagebuch-Erzähler ist), gleichzeitig aber macht er sich über die Muslime lustig, die gemäß gehörten Erzählungen in den von der Pest heimgesuchten Städten der Levante ohne Vorsichtsmaßnahmen Erkrankte besuchten oder überhaupt Leute sahen, weil ja ihr Leben in Gottes Hand sei. Gleichzeitig aber macht er geltend, dass es absolut notwendig und auch in religiöser Hinsicht korrekt sei, wenn die Medizin alles Menschenmögliche unternehme, die Krankheit einzudämmen, weil Gott wolle, dass der Mensch sein Leben auch aktiv schütze und wenn möglich verlängere. So verlangt er vom Einzelnen, dass er oder sie sich so gut es gehe, gegen eine solche Krankheit schütze – auch und gerade, wenn dieser Schutz darin bestehe, sich selber für Wochen vom Rest der Welt zu isolieren. (Was der Erzähler des Berichts natürlich selber nicht gemacht hat – wie hätte er sonst an all seine Beispiele kommen können?) Gleichzeitig aber macht er die Politik dafür verantwortlich, die korrekten Maßnahmen zu ergreifen – und das durchaus und vor allem auch vorbeugend. Zum Beispiel kritisiert er heftig, dass 1665 in London viel zu wenig Plätze in Kranken- und Pflegeinstitutionen verfügbar waren und deshalb die Kranken zu Hause bleiben mussten, wo sie zum Ansteckungsherd ganzer Quartiere wurden. (Die Krankheit einmal ausgebrochen, lobt er aber im Großen und Ganzen das Verhalten des Lord Mayor und seiner Aldermen.)

Statistiken wechseln ab mit Erzählungen über Personen, die erkrankten oder eben nicht erkrankten, mit Stimmungsbildern von der Straße und mit religiösen Überlegungen des Erzählers, in denen dieser wohl die Ansichten Daniel Defoes widergibt.

Es gibt sicher Parallelen im Verhalten der Leute von damals zu dem von heute. (Wen wundert es? Unsere genetische Ausrüstung, die die Reaktion auf Krisen und Katastrophen steuert, ist immer noch dieselbe.) Doch faszinierender ist – zumindest für mich – die Art und Weise, wie Defoe hier nüchterne und neutrale Berichterstattung mischt mit Geschichten, die interessieren, weil sie von Einzelschicksalen handeln, und das Ganze immer wieder statistisch unterfüttert. Wer will, mag Parallelen ziehen.

1 Reply to “Daniel Defoe: A Journal of the Plague Year [Die Pest zu / in London]”

  1. Nicht so bekannt ist der Fakt, daß Daniel Dafoe auch sowas wie ein Handbuch schrieb, wie man sich auf die “Plage” vorbereiten kann: “Due Preparations for the Plague” (s. https://books.google.de/books/about/Due_Preparations_for_the_Plague_as_Well.html?id=Ipc9AAAAYAAJ&redir_esc=y). Das war damals auch sehr erfolgreich, dieses Buch.

    Interessant finde ich die konzeptuellen Ähnlichkeiten zu Max Brooks’ “World War Z” (s. https://www.maxbrooks.com/world-war-z), das auch den Ablauf einer “Plage” beschreibt wie Dafoes “Journal of the Plague Year” (Brooks’ Buch will aber darüber hinaus als Beschreibung eines wirklich totalen Kriegs fungieren). Und um die Ähnlichkeit abzurunden, hat auch Max Brooks danach ein Handbuch für die Zombie-Apokalypse, den sogenannten “Zombie Survival Guide” geschrieben (s. https://www.maxbrooks.com/the-zombie-survival-guide).

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