Alphonse Daudet: Tartarins Reise in die Schweizer Alpen

Tartarin ist zurück! 15 Jahre, nachdem er in Nordafrika auf Löwenjagd war, ist er bereit für ein neues Abenteuer. In seiner Heimatstadt Tarascon hat sich einiges geändert in diesen 15 Jahren. Die Jagdgesellschaften, die Sonntags miteinander auszuziehen pflegten, und in Ermangelung jeden Wilds, das man hätte schießen können, ihre Mützen und Hüte in die Luft warfen und darauf zielten – diese Jagdgesellschaften gab es schon lange nicht mehr. Das Kamel, das Tartarin damals quer übers Mittelmeer nach Tarascon folgte, war ebenfalls schon vor einiger Zeit eines natürlichen Todes gestorben; und nur sein Skelett wurde noch im städtischen Museum ausgestellt. Die Stelle der Jägerei aber hatte ein anderer Spleen eingenommen – und das Wort ‘Spleen’ ist hier am richtigen Ort, denn ihre neue Leidenschaft hatten die Bewohner von Tarascon von den Briten übernommen: die Bergsteigerei. Und ganz wie die Briten und die Schweizer hatten auch sie einen Alpenclub gegründet. Deren Präsident war – natürlich – der weltberühmte Tartarin. Bei diesem hatte sich allerdings in den 15 Jahren seit der großen Fahrt auf den Löwen wieder jener Sancho Pansa das Zepter übernommen, der lieber zu Hause auf dem Sofa saß, als Abenteuer zu bestehen. So kam es, dass bei den allsonntäglichen Expeditionen in die nahe gelegenen Berge, die der Alpenclub von Tarascon ausführte, dessen Präsident kaum mehr mitmachte. Dabei waren diese Berge eher Berglein, die Expeditionen im Grunde genommen Sonntagsspaziergänge. Aber die Teilnehmer verstanden es, von überquerten Schluchten und Gletschern zu erzählen, von überwundenen Gefahren, wie es eben nur ein Südfranzose kann. (Wer das sagt, ist übrigens der Erzähler, also Daudet selber – und der muss es als Südfranzose ja wissen.) Jeder Zuhörer wusste, dass die Erzähler fürchterlich übertrieben; dennoch glaubte man ihnen aufs Wort – eine Fähigkeit, über die (wiederum nach Daudet) nur der Südfranzose verfügt.

Doch es kam, wie es kommen musste, und wie es schon einmal gekommen war: Mehr und mehr wurden Zweifel an der Fähigkeit Tartarins laut, einen Alpenclub zu präsidieren, wenn man selber keine Berge bestieg. Als sich dann bei der Vorbereitung der Jahresversammlung herauskristallisierte, dass der bisherige Sekretär des Clubs Aspirationen auf das Amt eines Präsidenten hegte, was es für Tartarin klar: Er würde abermals eine große Heldentat – diesmal in bergsteigerischer Hinsicht vollbringen müssen, um im Amt bleiben zu können. Abermals besiegte sein innerer Don Quijote seinen inneren Sancho Pansa. Abermals ging er gleich aufs ganz Große: Keine geringeren Berge als Eiger, Mönch oder Jungfrau (oder alle drei zusammen) in den Schweizer Alpen mussten es sein, die er besteigen wollte. Und abermals ließ er sich spezielle Ausrüstung herstellen und reiste ab.

Wir sehen: Daudet benutzt dasselbe Strickmuster noch einmal, und es ist nur dem speziellen Charme des Protagonisten Tartarin zu verdanken, dass man dem Roman überhaupt folgt. Wie im ersten Buch die nordafrikanischen Kolonien, so finden wir jetzt, in den Kapiteln III, IV und V, die bereits in der Schweiz spielen (auf dem Rigi und dem Vierwaldstättersee), eine herrliche Persiflage des in diesem Land mehr und mehr einsetzenden Tourismus. Tartarin trifft auf eine geführte Reisegruppe von Cook und besucht mit ihnen unter anderem die Tellsplatte – wo er zu seinem Entsetzen erfährt, dass es den Wilhelm Tell gar nie gegeben habe, er vielmehr eine Erfindung des Saxo Grammaticus sei. Und noch größer wird seine Enttäuschung, als er in einem Hinterzimmer des Restaurants auf einen Landsmann trifft, der ihm im Folgenden erklärt, dass es ja gar keine Schweiz gäbe:

Die Schweiz, Herr Tartarin, ist heute nichts anderes mehr als ein riesengroßer Kursaal, der vom Juni bis im September geöffnet ist, ein Kasino mit Panorama, wohin die Leute aus allen vier Weltgegenden kommen, um sich die Langeweile zu vertreiben. Betrieben wird dieses Unternehmen von einer Hunderte von Millionen und Milliarden reichen Gesellschaft, die ihren Sitz in Genf und London hat. Es brauchte viel Geld, das können Sie sich denken, um dieses ganze Gebiet in Pacht zu nehmen, schön zurecht zu kämmen, aufzuschniegeln, alle diese Seen, Wälder, Berge und Wasserfälle, ein ganzes Volk aus Angestellten, Statisten zu unterhalten, und auf den höchsten Berggipfeln prunkvolle Luxushotels zu erbauen, mit Gas, Telegraph und Telephon! …

Tartarin, der gerade das Luxushotel auf dem Rigi erlebt hat, ist nur allzu gern bereit, dies zu glauben. Da ihm sein Landsmann auch erzählt, dass das Bergsteigen dadurch völlig ungefährlich geworden ist, darf es den Leser nicht wundern, wenn später dann Tartarin mit der Unbekümmertheit eines Kindes über Gletscherspalten klettert. Es gelingt ihm so, die Jungfrau und (fast) den Mont Blanc zu ersteigen. Auch hierin also folgt Daudet dem Strickmuster seines ersten Romans mit Tartarin von Tarascon.

Auch eine junge Frau, in die sich der Protagonist verliebt, kommt vor. Anders als in Afrika wird Tartarin aber nicht mit ihr zusammen leben. Sie ist nämlich Russin und als solche Mitglied einer Gruppe von Nihilisten, die Bombenanschläge in Russland ausgeführt hat, deshalb nun im Exil lebt, was sie nicht davon abhält, weitere Anschläge zu planen. Tartarin ist in seiner Verliebtheit sofort bereit, auf alles zu schießen, was ihm die junge Russin als Ziel vorgibt. Sagt er wenigstens, denn als sie ihn auffordert, mit ihr nach Russland zu kommen und als Terrorist tätig zu werden, nimmt er Reißaus und Abschied.

In der Cook’schen Reisegruppe befindet sich übrigens auch ein junger Schwede, der – so Daudet – zu viel Schopenhauer und Hartmann gelesen und sich deren Pessimismus zu eigen gemacht hat. Als dieser droht, seinem Leben ein Ende zu setzen, indem er sich in eine Gletscherspalte wirft, wird er zum Katalysator des fulminanten Endes von Tartarins Bergsteigerkarriere. Ansonsten allerdings ist er eine etwas seltsame Gestalt, und man fragt sich, was Daudet geritten haben könnte, sie einzuführen. Die Nihilisten und dieser junge Schwede sind etwas seltsame, düstere Gestalten in einer ansonsten eher heiteren Geschichte, und sie passen schlecht hinein.

Tartarin hat irgendwann dann von seinem Landsmann erfahren, dass die von diesem erfundene Schweiz als Tourismus-Unternehmen, in der es keine Gefahren gibt beim Bergsteigen, dass diese Schilderung also ganz einfach erstunken und erlogen war. Gerade diese Flunkereien aber sind auch heute – zumindest aus meiner Sicht als potentieller Angestellter der Schweiz AG – nur allzu wahr. Sicher: Bergsteigen ist wirklich gefährlich, aber die Fassade, die vielerorts für die Touristen (die heute keine Engländer und Franzosen mehr sind, sondern Japaner und Chinesen) aufgestellt wird, und mehr als nur den Teil umfasst, der wirklich von Tourismus-Unternehmen betrieben wird, lässt einen manchmal schmerzhaft an Daudets Schweiz AG denken. Und doch grinst man halt auch einmal ob sich selber und ob seiner Landsleute.


Gelesen in folgender Ausgabe:

Alphonse Daudet: Tartarins Reise in die Schweizer Alpen. Übersetzung: Walter Widmer, Illustrationen: Ruedi Barth. Bern-Bümpliz: Albert Züst Verlag. Erschienen ist es [das Buch – P.H.] auf die ersten Sommerferien des neuen Friedens, im Juli 1945. [Ein Satz, der in sich schon einer eigenen, längeren Untersuchung wert wäre … ]

1 Reply to “Alphonse Daudet: Tartarins Reise in die Schweizer Alpen”

  1. Wer je Karl May gelesen hat, der mühelos das Sandstein-Erzgebirge zum amerikanischen Felsengebirge aufgeblasen hat, der weiß, dass es die erfinderisch-übertreibenden wie gläubig-rezipierenden Fähigkeiten nicht nur in Südfrankreich gab 😉

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