Johann Unwirrsch, Sohn eines Schusters (dem schon die Neigung nach der großen, vor allem gebildet-akademischen Welt innewohnt und der der Lektüre in sehr viel stärkerem Ausmaß zugetan ist, als das bei einem Manne seiner Zunft üblicherweise der Fall zu sein pflegt) erfüllt sich (und dem verstorbenen Vater) den Traum einer höheren Bildung, geht auf das Gymnasium und studiert anschließend an der Hochschule Theologie. Dabei ist dieser Unwirrsch ein herzensguter Kerl, ein wenig zu romantisch und verträumt, was ihm bis zum glücklich-kitschigen Ende in allerlei Fährlichkeiten verstrickt – insbesondere durch seinen Jugendfreund Moses Freudenstein, der hinwiederum als Inkarnation unzähliger jüdischer Klischees firmiert (kaum etwas wird da ausgelassen: Geld- und Machtgier, Egoismus, die intellektuelle Begabung nebst Konversion zum Katholizismus, um sich durch gesellschaftlichen Erfolg an der Gesellschaft für seine Zurücksetzung als Jude zu rächen).
Während sich der brave Johann nach seinem Studium als Hauslehrer verdingt (und dabei einiges an Hochmut und Zurückweisung zu ertragen gezwungen wird), geht Moses nach Paris, ändert (nach seiner Konversion) den Namen ich Theophile Stein und trifft mit seinem ehemaligen Freund in Berlin (die Zufälle a la Dickens sind in diesem Buche Legion) wieder zusammen. Johann verliebt sich in das vom Leben gebeutelte, vor Unschuld und Bravheit triefende Fränzchen (natürlich, die beiden hochherzig-schlichten Gemüter kriegen sich am Ende), der vormalige Moses hingegen verführt aus Geldgier die reiche Tochter des Hauses (in der Johann als Hauslehrer wirkt), was ihm allerdings nicht gut bekommt, weil die verführte Kleophea dieser Verbindung wegen enterbt wird. Das Ende in all seiner Herz-Schmerz-Dramatik hätte von Rosamunde Pilcher nicht gefühlsduseliger gestaltet werden können: Am Tag der Hochzeit von Fränzchen und Johann sinkt vor der Küste ein französisches Schiff auf dem Weg nach St. Petersburg – und selbstredend ist unter den Geretteten jene Kleophea, die ihren Theophile verlassen hat und nun gerade noch so lange lebt, um ausführlich ihre Heirat (und Flucht) zu bereuen, sich für ihr Tun und Lassen zu entschuldigen und Reue zu zeigen, um endlich dem lieben Gott ihre Seele anzuempfehlen.
Das alles von einem Autor, der den „Stopfkuchen“, „Pfisters Mühle“ oder auch „Die Chronik der Sperlingsgasse“ geschrieben und sich in diesen Werken als ein mehr als feinfühliger und kundiger Beobachter seiner Mit- und Umwelt erwiesen hat. Da hilft auch die anfängliche Eleganz der Sprache nicht (die gegen Ende in ein schwülstiges und kaum erträgliches Pathos abgleitet, changierend zwischen den unschuldig liebenden Herzen der Protagonisten und einer dumm-einfältigen Gottergebenheit), es bleiben einzig ein paar gelungene Figuren (wie der Oheim Grünebaum oder die Base Schlotterbeck), wofür man einige antisemitische Stereotypen in Kauf nehmen muss. Der umfangreich Roman war Raabes Sache offenkundig nicht, er ist so viel eindrucksvoller in seinen kurzen Novellen, Beschreibungen, dort, wo er sich nicht um ein großes Ganzes bemühen zu müssen glaubt. Dieses Buch hat bestenfalls literaturhistorischen Wert, es mag paradigmatisch sein für Zeit und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Aber nichts, das man heute noch empfehlen könnte.
Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor. Stuttgart: Verlag Neues Leben 1985 (Lizenzausgabe des Parkland-Verlages).