Ein wenig habe ich mich in diese Gedichte verliebt. Ein wenig sehr sogar. Denn dem Autor Hanspeter Müller-Drossaart gelingt hier beinahe so etwas wie die Quadratur des Kreises. Mit wenigen Worten schildert er eine Stimmung, eine Haltung oder eine Handlung. Kein Wort ist zu viel, Rhythmus und Reihenfolge stimmen. Peter von Matt wird im Klappentext wie folgt zitiert: Man liest ihn mit hohem Vergnügen und stellt auf einmal fest, dass man über ein paar Zeilen in ein langes Nachdenken geraten ist. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Es handelt sich bei Müller-Drossaarts Gedichten um kleine Vignetten über Leben und Tod, Liebe und Hass – kurz: den Alltag irgendwo in der Innerschweiz. Da ist aber nichts betulich folkloristisches dabei; Müller-Drossarts Innerschweiz kennt Autoverkehr, Staus und Supermärkte wie der Rest der Schweiz. Also schildert er auch den Alltag irgendwo in der Schweiz. Und damit eigentlich auch irgendwo auf der Welt – wenn da nicht eine Kleinigkeit wäre …
Nämlich: Hanspeter Müller-Drossaart schreibt in seinem heimatlichen Dialekt. Er ist in den beiden Innerschweizer Kantonen Uri und Obwalden aufgewachsen, und in diesem Büchlein hier finden wir je etwa zur Hälfte Gedichte im Urner und welche im Obwalder Dialekt. Christian Haller in seinem Nachwort wundert sich deshalb ein wenig, weil, wie er sagt bei den beiden Dialekten der Stimmsitz diametral verschieden ist. Das Obwaldnerische wird ganz vorne an den Schneidezähnen ausgesprochen, während das Urnerische tief im Hals steckt, dass die Lippen kaum bewegt werden müssen. (Ich kann es nicht beurteilen. Ich kenne zwar ein paar Urner:innen, aber niemanden aus Obwalden.) Beide Dialekte aber zählen linguistisch zum so genannten Höchstalemannisch, will sagen: zur extremsten, weil südlichsten Form des sowieso schon am Rande des deutschen Sprachraums liegenden Alemannisch. Dieses alemannische Residuum existiert praktisch nur noch in den Alpen der Innerschweiz und im deutschsprachigen Teil des Kantons Wallis. Ich selber, weiter nördlich aufgewachsen, bin „nur“ im Hochalemannischen heimisch, und habe deshalb, wie alle andern Schweizer außer denen aus den Alpen, selber Mühe, Urner oder Obwalder Dialekt zu verstehen. Wohl deshalb finden wir bei jedem Gedicht auch eine Übersetzung ins Standarddeutsch (der Autor selber spricht von Überschreibung): links Original, rechts Überschreibung. Ob Nicht-Alemannen oder auch nur Niederalemannen (Basler oder Schwaben) dem Original folgen können, bezweifle ich ein wenig. Um so mehr ist der Mut des Verlags zu bewundern, der diese Auswahl aus zwei früheren Publikationen Müller-Drossaarts auf den Markt gebracht hat: Gedichte, und dann noch in einer Sprache, die selbst Landsleute des Autors kaum verstehen …
Ich wünschte diesen Gedichten ein großes Publikum, fürchte aber, dass dieser Wunsch nicht erfüllt werden wird. Sie werden wohl selbst in der Schweiz ein Geheimtipp bleiben.
Hanspeter Müller-Drossaart: steile flügel. Gedichte (Mundart / dt.). Mit einem Nachwort von Christian Haller. Zürich, Roßdorf: Wolfbach Verlag 2020 (= DIE REIHE Nr. 72 [Herausgeber dieser Reihe: Markus Bundi])