Fünf Marx Brüder
Eigentlich waren es ja fünf Brüder, die da an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einem damals nicht sehr respektablen, wenn auch nicht schlechten Stadtteil von New York zur Welt kamen. Aber nur drei davon schafften es zuerst als Vaudevillekünstler und dann als Filmschauspieler zu Weltruhm. Was nicht heißt, dass die andern beiden nicht auch in Verbindung mit dem Marx Brothers-Universum gestanden hätten.
Chico
Chico, der Älteste, war auch der erste, der ins Vaudeville einstieg, zunächst ohne seine Brüder. Als sich die Truppe der Marx Brothers dann zu formieren begann, und jeder seinen ganz bestimmten Typ spielte, egal, welchen Namen ihm die Drehbuchschreiber verpasst hatten, war es an Chico, den oft sturen, manchmal schlauen, ebenso oft aber unbedarften Einwanderer aus Italien zu spielen. Chicos Spezialität wurden die dummen Fragen und Wortverwechslungen und der Umstand, dass er allen jungen Frauen nachstellte. Als Einlage spielte er auch schon mal Klavier – einhändig, weil sein Lehrer nichts anderes konnte. Von den drei bekannten Brüdern ist er vielleicht derjenige, der am meisten in den Hintergrund tritt im Bewusstsein des Publikums.
Harpo
Weil seine Stimme nicht gefiel, wurde beschlossen, dass Harpo auf der Bühne und auf der Leinwand ganz einfach nicht mehr sprechen sollte. An Stelle der Worte verwendete er eine ganz eigene Zeichensprache und jede Menge Utensilien, die er aus den riesigen Taschen seines Mantels zog – allen voran die berühmte alte, heisere Autohupe. Auf den ersten Blick – und schon gar mit seiner blonden Lockenpracht (in Tat und Wahrheit eine pinkfarbene Perücke, blond hätte auf der Leinwand zu dunkel gewirkt) und seinem unschuldigen Blick, seiner unschuldigen Miene – wirkte er wie ein verträumter Engel, der versehentlich vom Himmel auf die Erde gefallen ist. Dazu passte auch sein Harfenspiel, das in jeden Film einfloss. Doch Harpo konnte auch heimtückisch sein. Er klaute, was nicht niet- und nagelfest war. (Wobei er eher der Taschendieb war; Chico räumte die Hotelzimmer aus.) Wenn man ihn reizte, entwickelte er eine verblüffende Zerstörungswut und konnte ganze Inneneinrichtungen zerlegen. Last but not least: Wenn immer eine schöne Frau vorbei kam, kriegte er Stielaugen, ließ alles andere stehen und liegen und rannte ihr nach.
Groucho
Groucho ist der Intellektuelle und Zyniker des Teams. Zumindest will er als Intellektueller durchgehen, als Anwalt oder als Arzt. Er quasselt jeden andern im Raum nieder (außer Chico, der ihn mit dummen Fragen unterläuft). Man könnte von einer verbalen Zerstörungswut reden, denn er zerstört so ziemlich jeden Sinn, den einer seiner Sätze haben könnte, im nächstfolgenden Satz. Ein Verbal-Anarchist, der sich auch selber im Weg steht: Wann immer er einer reichen Witwe den Hof macht, weil er unbedingt Geld braucht, kann er nicht umhin, die gute Frau verbal herabzusetzen – was seine Chancen bei der Lady nicht erhöht. (Ursprünglich führte Grouchos Figur einen deutschen Akzent, aber mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg wurden die Deutschen unbeliebt, und seine Figur war nun der Durchschnittsamerikaner aus dem Mittleren Westen.)
Die Marx Brothers
Anarchisten in Wort und Tat, könnte ihre Filme wohl am besten beschreiben. Man ist versucht, zu sagen, dass ihre Filme ein Paradebeispiel darstellten von „Wir gegen den Rest der Welt“. Nur, dass es dieses „Wir“ im Falle der Marx Brothers eigentlich gar nicht gibt. So, wie sie mit der Welt ständig wechselnde Allianzen eingehen, so auch untereinander. Noch innerhalb der gleichen Szene, des gleichen Satzes gar, kann es sein, dass eine gerade geschmiedete Allianz zwischen zwei Brüdern zerbricht und sich eine neue, andere bildet. (Das Ganze geschieht ohne jedes Aufsehen; es ist das Natürlichste der Welt für die Marx-Charaktere, dass was eben noch galt, jetzt nicht mehr so ist. Dafür sind die Filme der Marx Brothers die einzigen, bei denen ich mich erinnern kann, dass im Vordergrund zwei Komödianten (Chico und Groucho) etwas diskutieren – natürlich mit hoher Gagdichte – während im Hintergrund der dritte (Harpo) ihnen die ganze Aufmerksamkeit stiehlt, weil er in einer Improvisation gerade Ballettmädchen über die Bühne jagt. Wie überhaupt, sehr zum Ärger der Gagschreiber, die Marx Brothers das Improvisieren liebten.
Und die andern beiden Brüder?
Gummo
Gummo war der einzige, der nie auf der Bühne stand. Ursprünglich in der Damenausstattung tätig, wurde er aber bald der Manager der Marx Brothers und blieb das auch, nachdem es die Marx Brothers offiziell gar nicht mehr gab.
Zeppo
Zu Beginn der Marx Brothers war Zeppo noch dabei als der „Straight Man“, der Normale, der Liebhaber, der Amanuensis – was auch immer. Dass man als Spatz neben drei Paradiesvögeln sehr wenig eigenes Profil entfalten kann, musste er aber dabei am eigenen Leib erfahren. Spätestens, als die Marx Brothers das Filmstudio wechselten und nun bei MGM produzierten, wurde seine Figur obsolet. Vielleicht war es auch besser für ihn. Anstatt als vierter Bruder das fünfte Rad am Wagen zu sein, konnte er sich mit einer Firma selbständig machen, die eigene und fremde Patente produzierte und die ihm ein gutes Auskommen gewährte.
Gibt es ein Leben nach den Marx Brothers?
Ausgesorgt hatten sie ja, die Brüder. Oder hätten sie gehabt, wenn sie nicht, wie vor allem Chico, spielsüchtig gewesen wären. So musste Chico bis ins hohe Alter weiter auftreten. Harpo seinerseits hat noch seine Autobiografie Harpo speaks! geschrieben und gehörte zum Intellektuellenzirkel um Dorothy Parker, worauf er besonders stolz war, hatte er doch in seinem Leben die Schule nur gerade mal anderthalb Jahre besucht. Auch Groucho hatte lange nicht die Schulbildung genossen, wie er es gern getan hätte, und so war er seinerseits sehr stolz darauf, als sich eines Tages der Literaturnobelpreisträger T. S. Eliot bei ihm meldete und um ein signiertes Foto bat. Daraus entwickelte sich ein Briefwechsel und man besuchte sich gegenseitig. Den Briefwechsel ließ Groucho, zusammen mit anderen Briefen, veröffentlichen, ebenso eine Autobiografie. Aber Groucho war auch der, der im Bewusstsein des Publikums noch lange verblieb, da er ab 1947 – zunächst im Radio, dann im Fernsehen – eine Quizshow moderierte. Das Quiz war dabei Nebensachen, Grouchos meist improvisierte Dialoge mit den Kandidaten die Hauptsache. Zugegeben: Viele der Spässe, die er damals machte, dürfte er heute nicht mehr machen.
Das Buch
Es gibt viele Bücher von und über die Marx Brothers. Das ist einigermaßen erstaunlich, kann man doch deren Witz und deren Können eigentlich nur ermessen, wenn man ihre Filme betrachtet. Andererseits bieten Bücher auch die Möglichkeit, die oft rasant herunter gespulten Dialoge im Detail nachzulesen.
Vor mir liegt:
The Best of the Marx Brothers. Groucho, Chico, Harpo et al. London: Folio Society, 2007. Das Buch enthält kurze Biografien aller fünf Brüder, Transkripte der bekanntesten Szenen aus ihren Bühnenauftritten, Filmen und Radio Shows, einiges aus The Groucho Letters, Ausschnitte aus Harpo Speaks! und aus Grouchos Show You Bet Your Life.