Dies ist die dritte Kurzgeschichte mit dem Amateur-Detektiv C. Auguste Dupin in der Hauptrolle, die Edgar Allan Poe geschrieben hat. Und es ist die beste. Während die erste, Doppelmord in der Rue Morgue, allzu viel Wasser aus den Quellen bezog, mit denen Poe ansonsten seine Schauergeschichten alimentierte (die Morde sind blutig und grausam, und die Lösung mit einem Amok laufenden großen Affen ist nun auch jenseits jeder Vernunft – Leroux in Le mystère de la chambre jaune macht sich zu Recht darüber lustig), und die zweite, The Mystery of Marie Rogêt den gescheiterten Versuch darstellte, einen tatsächlichen Mordfall, der sich in New York City ereignet hatte, zu lösen, indem er den Vorfall nach Paris transponierte und durch Dupin lösen ließ (was nur schon zum Scheitern verurteilt war, weil sich die aktuellen Fakten nur schlecht in die Fiktion transponieren ließen), ist diese dritte Geschichte hier ein wunderhübsches intellektuelles Rätsel.
Die Erzählstruktur ist immer noch die gleiche: Der anonym bleibende Freund von Dupin erzählt die Geschichte aus seiner Sicht und mit seinem jeweils begrenzten Wissen (denn Dupin weiht ihn keineswegs in seine Gedanken ein). Aber dieses Mal haben wir einen dem scharfsinnigen Analytiker Dupin gleichwertigen Kontrahenten im Spiel: den Minister D––. Der ist ein Erzbösewicht reinsten Wassers, ein Intrigant, der es nur darauf anlegt, die Politik des Landes nach seinen ganz persönlichen Wünschen zu lenken. Diesem Minister D–– gelingt es, in den Besitz eines kompromittierenden Briefes zu gelangen, der, wenn er öffentlich würde, eine hochstehende Persönlichkeit des Hofs ruinieren würde. Diese Persönlichkeit war Zeuge der Entwendung, konnte sie aber nicht verhindern. Alle wissen also, dass Minister D–– den Brief besitzt, niemand aber weiß, wo er ihn versteckt. Die hochstehende Persönlichkeit hat den Polizeipräsidenten von Paris um Hilfe gebeten. Der hat mit seinen Männern die Wohnung des Ministers, das ganze Haus und die beiden Nachbarhäuser aufs Genaueste untersucht, aber keinen Brief gefunden. Drei Mal hat man den Mann unter dem Vorwand eines Raubüberfalls auf die Haut ausgezogen und jedes Kleidungsstück untersucht. Auch dort war der Brief nicht. Dies alles erzählt der Polizeipräsident eines Abends bei einer Pfeife.
Nachdem er weg gegangen ist, äußert der Ich-Erzähler die Theorie, dass der Polizeipräsident allzu sehr vom Bild des Ministers als Dichter geprägt ist und ihm deshalb zu wenig Raffinesse zutraut, während er doch nicht nur als Dichter zu Ruhm gelangt ist, sondern auch als Mathematiker. Doch Dupin ist genau der gegenteiligen Meinung. Weil der Polizeipräsident nur den Mathematiker sieht, sucht er nach einer sozusagen mathematischen Lösung, die darin besteht, dass er den absolut unwahrscheinlichsten Ort finden muss, wo der Brief versteckt sein kann. Doch diesen Ort, so Dupin, findet er nicht als Mathematiker – hierzu ist ein Dichter vonnöten. Nur ein Dichter wird den Platz finden, der so unwahrscheinlich, weil offensichtlich ist, dass dort niemand etwas sucht, das der andere versteckt haben will.
Dupin sucht den Minister in dessen Haus auf und es gelingt ihm denn auch, den Brief zu finden. Sicher, er ist ein wenig verunstaltet worden, ganz aufs Versteckspielen konnte der Minister dann doch nicht verzichten. Aber er lag ganz offensichtlich auf dem Schreibtisch zusammen mit anderen Briefen und Rechnungen.
Leblanc hat das Sujet des offensichtlichen Verstecks für seinen Arsène Lupin übernommen, Doyle den kongenialen Bösewicht (Moriarty, der dann allerdings noch viel dämonischer wurde als Poes Minister D––). Andere Beispiele ließen sich wohl problemlos finden. Eine Kurzgeschichte, die ihren Nachruhm verdient hat.