Gemäß den Angaben in meiner Ausgabe gehört Alfons Paquet (1882-1944) zu den größten Persönlichkeiten und schreibenden Textzeugen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war seit 1932 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, trat aber bereits 1933 wieder aus, als diese von den Nationalsozialisten (nunmehr an der Macht) gleichgeschaltet wurde. Das hatte im Übrigen für ihn persönlich offenbar keine Konsequenzen, obwohl er schon früher offen als Pazifist aufgetreten war. 1944 starb er bei einem Luftangriff auf Frankfurt in seinem Luftschutzkeller an einem Herzinfarkt. Bevor Der Rhein, eine Reise dieses Jahr (2022) in der Reihe BÜCHERGILDE unterwegs bei eben dieser Büchergilde in Darmstadt wieder veröffentlicht wurde, habe ich, ehrlich gesagt, seinen Namen nie gehört. Das will allerdings nichts heißen.
Das Buch Der Rhein, eine Reise wurde 1923 zum ersten Mal publiziert. Meine Ausgabe apostrophiert dieses Buch als erstes modernes Rheinreisebuch [und] eine der interessantesten Wiederentdeckungen der deutschsprachigen Reiseliteratur des beginnenden 20. Jahrhunderts. Tatsächlich war Paquet vielleicht der erste, der einen Fluss ‚biografierte‘, indem er ihm von der Quelle bis zur Mündung folgte. Auch sonst hat das Buch Seiten, die heute noch zu interessieren vermögen. Dass Paquet dennoch kaum mehr bekannt ist, kann aber ebenfalls an Hand des Textes erklärt werden.
Paquet schildert eine Reise von den Quellen des Rheins bis zu seiner Mündung (seinen Mündungen). In impressionistischer, ja fast pointillistischer Manier sucht er dabei Punkte entlang des Rheins, um seine Eindrücke von dort zu wiederzugeben. Ob er diese Reise tatsächlich in dieser Form am Stück absolviert hat, oder ob er Eindrücke von verschiedenen Aufenthalten zu einem Bericht zusammengesetzt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Tatsache ist, dass dieser pointillistische Stil manchmal sehr schöne und beeindruckende Resultate liefert – so zum Beispiel, wenn er ganz zu Beginn die Bündner Alpentäler und das Leben darin beschreibt, oder später am Mittelrhein die Weingegenden mit ihren Reminiszenzen an die Romantiker, die dort lebten und wirkten. Auch die Spuren der alten Römer beeindrucken ihn und deshalb oft auch uns. Wenn er aber versucht, Städte zu schildern, vor allem deren eher negative Seiten, wirkt er merkwürdig verloren. Manchmal schildert er auch Eindrücke, die höchstens an Hand der Einordnung in den Lauf des Rheins halbwegs identifiziert werden können, weil er eine genaue Lokalisierung nicht für nötig hält. Und einmal geht er sogar völlig vom eigentlichen Lauf des Flusses ab, wenn er zu Beginn die Quellen des Rheins plötzlich am Gotthard sucht. Was er tatsächlich meint, ist der Umstand, dass dort mit Aare und Reuss die Flüsse entspringen, die dem Rhein zwischen Bodensee und Basel am meisten Wasser zuführen. So kommt selbst Aarau, das nun ganz und gar nicht am Rhein liegt, zur Ehre einer Erwähnung.
Was für einen ‚echten‘ Reisebericht ebenfalls fehlt, sind die Schilderungen der eigentlichen Reise. Einmal, wieder ganz zu Beginn des Buchs, erfahren wir, dass der Autor offenbar im Zug unterwegs ist. Er schildert sogar seine Mitpassagiere. Doch damit ist schon am Bodensee Schluss, und für den Rest des Buchs werden wir quasi aus dem Nichts am jeweiligen Punkt abgeworfen, den Paquet nun zu schildern beabsichtigt.
Im Übrigen staunt Paquet über den (relativen) Reichtum der Schweizer Städte und der holländischen, wenn er sie mit den deutschen vergleicht. Hintergrund der Armut der deutschen Städte ist der gerade erst verlorene Erste Weltkrieg, die daraus entstandenen hohen Reparationszahlungen Deutschlands und die grassierende Inflation der Reichsmark. Die Schuld für die deutsche Armut sucht er aber (einigermaßen einseitig) bei den Franzosen und den Belgiern, die in ihren Forderungen hart und unerbittlich sind.
Diese Einseitigkeit verwundert einen dann doch angesichts der Tatsache, dass Paquets Pazifismus auch in diesem Buch durchscheint, und er immer wieder, offen oder versteckt, der Hoffnung Raum gibt, dass der Rhein eines Tages wieder völkerverbindend sein werden und nicht die praktisch undurchlässige Grenze, die er 1923 bildete. Seine diesbezüglichen Hoffnungen setzt er in eine Art Wiederbelebung der Hanse. (Tatsächlich war dann der erste Vorläufer der heutigen EU die so genannte Montanunion, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, ein reiner Wirtschaftsverband, der – mit Ausnahme Italiens – nur Staaten umfasste, die an den Rhein anstoßen.) Allerdings übertreibt er es auch hier mit seinen Bildern, wenn er im Zusammenhang mit der Handelsschifffahrt auf dem Rhein davon spricht, dass der Rhein bis Großbritannien reicht, die Themse in London sozusagen ein Nebenfluss davon ist.
Visionäre Teile wechseln ab mit gelungenen impressionistischen Landschaftsschilderungen und weniger gelungenen, weil zu impressionistischen Schilderungen der Städte entlang des Rheins. Summa summarum also tatsächlich interessant.
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