Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen

Karl August Böttiger kam 1791 als Direktor des dortigen Gymnasiums nach Weimar. Geholt hatte ihn Johann Gottfried Herder. Dieser war nicht nur als Superindendent der Leiter Kirche des Herzogtums; er war auch in Personalunion als Ephorus zuständig für die Belange des herzoglichen Gymnasiums. Man war allgemein sehr stolz darauf, dass es gelungen war, Böttiger nach Weimar zu holen; dem 30-Jährigen ging ein guter Ruf sowohl als Schulmann wie als Altphilologe voraus.

Schon bald aber hatten vor allem Schiller und Goethe manchen Grund, sich über Böttiger zu beklagen. (Herder, als Böttigers Vorgesetzter, scheint die persönlichen Kontakte von Anfang an klein gehalten zu haben.) Schiller hatte noch ein bisschen weniger Grund zur Klage als Goethe: Die Berührungspunkte zwischen dem Schwaben und dem Vogtländer waren recht klein. Schiller hatte seinerzeit in seiner Ausbildung zum Militärarzt keine oder zumindest kaum eine Ausbildung in klassischer Literatur erhalten, weshalb er für Böttiger auch kein ernst zu nehmender Dichter war. Den schlimmsten Streich, den er ihm spielte, war folgender: Noch vor der Publikation als Buch fanden in Weimar die Proben zur Uraufführung von Schillers Wallenstein statt, und Böttiger konnte die Schauspieler überreden, ihm ein Exemplar des Textbuchs zu überlassen. Dieses schickte er Freunden in Kopenhagen, wo dann von ein paar Liebhabern der Wallenstein bereits vor der offiziellen Uraufführung einem ausgewählten Publikum vorgepielt wurde.

Mit Goethe hingegen kam es zu einem handfesten Skandal, der damals ganz Weimar erschütterte. 1801/02 wurde am Weimarer Hoftheater, das damals noch unter der Leitung Goethes stand, das Schauspiel Ion von August Wilhelm Schlegel aufgeführt. Böttiger wohnte einer Aufführung bei und war entsetzt. Dies gleich doppelt: Der Altphilologe in ihm entsetzte sich über die äußerst freie Behandlung, die Schlegel dem antiken Mythos des Ion angedeihen ließ, und der Spätaufklärer fand Goethes Aufführungspraxis irritierend, die es darauf anlegte, die Illusion eines gerade tatsächlich stattfindenden Geschehens zu brechen und das Künstliche und Kunstvolle zu betonen dessen, was auf der Bühne statt fand. Böttiger verfasste eine bissig-satirische Kritik, die in Weimar, in Bertuchs Journal des Luxus und der Moden erscheinen sollte. Goethe, der selbst wenn es nicht um ihn persönlich ging, kaum Spaß verstand, ließ die bereits gedruckten Exemplare des Journals konfiszieren und einstampfen. Gleichzeitig machte er Druck auf Wieland, so dass es dieser nicht wagte, die Rezension seinerseits im Teutschen Merkur abzudrucken. (Sie erschien dann in August von Kotzebues Der Freimüthige, und ob das so viel besser war, bleibe dahin gestellt.)

Nun ist gerade Wieland ins Spiel gekommen. Der nun ist in Bezug auf Böttiger ein Sonderfall. Tatsächlich war Wieland der einzige der vier Klassiker, zu dem Böttiger einen guten Draht gefunden hatte. Ja, es kam hier sogar zu einer Freundschaft. Böttiger beteiligte sich als Herausgeber am Teutschen Merkur. Das hieß in der Realität, dass Böttiger die Arbeit erledigte und Wieland noch seinen Namen dazu gab. Auch der Altphilologe Böttiger war Wieland eine Hilfe, war er doch zu jener Zeit damit beschäftigt, das Gastmahl des Xenophon zu übersetzen und Komödien des Aristophanes. Umgekehrt erfuhr Böttiger viele Einzelheiten aus dem Leben Wielands, die er – offenbar mit einem ausgezeichneten Gedächtnis begabt – zu Hause jeweils niederschrieb. Und wenn hier einer unter dem anderen litt, dann war es Böttiger, der in vieler Hinsicht unter dem launenhaften und oft gar jähzornigen Wieland zu leiden hatte. Nicht so sehr persönlich, aber ein Literaturkritiker, der in einer Kritik ein Buch in den Himmel lobt, in einer anderen einen grandiosen Verriss darüber schreibt (was bei Wieland oft vorkam, je nach Laune, in der er gerade steckte), ist für einen Herausgeber einer Literaturzeitschrift ein ganz spezielles Kreuz. Es ist Wieland als Mensch zu Gute zu halten, dass ihm seine Anfälle von Jähzorn jedes Mal nachträglich unendlich leid taten – aber genau das führte dann oft dazu, dass er um der Wiedergutmachung Willen des Guten allzu viel tat, was wiederum schlecht war für seine Reputation als Kritiker.

Warum Böttiger derart genau Buch über diese und alle anderen Gespräche führte, werden wir wohl nie mehr genau erfahren. Wollte er sie überarbeiten und veröffentlichen? Er starb nur drei Jahre nach Goethe; vielleicht reichte ihm dieser Zeitraum nicht mehr. Sein Sohn veröffentlichte 1838 eine um allzu offene oder vermeintlich anstößige Stellen gekürzte Version. Doch schon diese genügte, um dem Publikum zu zeigen, warum man ihn in Weimar so allgemein hasste. Wenn sich Herzog Carl August in seiner Sturm und Drang-Zeit nicht mehr wusch und roch wie ein Wiedehopf, ja sogar einen Hautausschlag kontrahierte vor lauter Schmutz, dann war das für Böttiger ebenso einer Aufzeichnung wert, wie wenn Wieland davon berichtete, wie er als junger Mann vom Sexus getrieben worden sei. Böttiger – und das macht seinen Text interessant auch für die Nachwelt – wertete nicht, er zeichnete nur auf. Ob die Einteilung des Buchs nach besprochenen Personen (grob gesagt: nach ein paar einführenden Kapiteln finden wir welche zu den kulturell wichtigsten Leuten in Weimar, der Reihe ihres Auftretens nach Goethe, Herder, Schiller, Wieland (dem er mit 150 Seiten das das Fünffache an Raum zugestand im Vergleich zu Goethe oder Herder, von den 5 Seiten zu Schiller ganz zu schweigen), dann die minderen Größen (Bertuch, Göschen und viele andere), zuletzt die wichtigsten Besucher Weimars, die Mme de Staël (da lässt er sich auch zu Bemerkungen verleiten über die stämmigen Schenkel der Frau, die wir nach heutigen Gesichtspunkten als ‚body shaming‘ qualifizieren müssen) und Johann Heinrich Voß (an dem und dessen metrischer Homer-Übersetzung der Heyne-Schüler natürlich keinen guten Faden liess), endend in ein paar Paralipomena.

Unabhängig von den Personen werden wir feststellen müssen, dass auch die viel gerühmten Klassiker nur mit Wasser kochten. Was und wie sie sich zum Beispiel über Kant und Fichte äußern, grenzt in seiner Plattheit an Stammtischgespräche. Und daran änderte auch die Gegenwart von Mme de Staël nichts (im Gegenteil – ihre Urteile sind wo möglich noch platter als die der Deutschen) oder der Umstand, dass sich mit Carl Leonhard Reinhold ein Schwiegersohn in der Familie Wielands befand, der als Professor der Philosophie amtete – erst ein Anhänger Kants, dann Fichtes. (Ein anderer Schwiegersohn war der Buchhändler Gessner in Zürich, der Sohn des dortigen Malers und Dichters, den Wieland ja bei seinem Aufenthalt daselbst noch persönlich kennen gelernt hatte.)

Auch berühmte Menschen sind in ihrem Alltag letzten Endes nur – Menschen.


Gelesen in der ersten vollständigen Fassung, erstellt nach der Handschrift (die Böttigers Sohn verdankenswerter Weise nach der Publikation seiner Ausgabe nicht vernichtete, sondern der Königlichen Bibliothek zu Dresden vermachte, wohin Karl August Böttiger 1804 gezogen war. Sehr zur Erleichterung vor allem Goethes übrigens, der fand, erst jetzt, nach dem Wegzug Böttigers, könne er in Weimar wieder frei atmen!). Heute ist diese Institution als Staats- und Universitätsbibliothek Dresden Teil der Sächsischen Landesbibliothek.

Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar. Herausgegeben von Klaus Gerlach und René Sternke. Berlin: Aufbau-Verlag, 31998.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert