Wir wissen wenig bis gar nichts über das Leben des Walther von der Vogelweide. Er lebte an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert im Südosten des Gebiets, das heute „Deutschland“ heisst, vor allem in Thüringen und am Wiener Hof der Babinger. Wiederholt versuchte er eine feste Stellung als Hofsänger oder ein Lehen zu erhalten – wahrscheinlich ohne Erfolg. Trotz der Tatsache aber, dass wir heute sehr wenig über den Menschen Walther wissen (und das meiste davon aus seinen eigenen Liedern), ist er der bekannteste Lyriker deutscher Sprache des Mittelalters und gilt als der bei weitem beste.
Seine Lieder sind denn auch wirklich sehr kunstvoll ausgeführt – so kunstvoll in der Tat, dass eine Übersetzung ins Neuhochdeutsche praktisch unmöglich wird. Jedenfalls, wenn versucht werden soll, sowohl den genauen Sinn der Worte zu übertragen wie die syntaktische Struktur und das Versmaß.
Von Walther gibt es hauptsächlich zwei Genres von Liedern. Da sind zum einen die politischen Lieder, die so genannten Reichs-Töne. Darin versucht Walther nicht nur Amt und Würde bei einem der deutschen Kaiser der Zeit zu erhalten; er lobt und kritisiert sie auch. Seine Einstellung ist dabei sehr konservativ. Er ist offenbar gläubiger Christ und ruft seine Kaiser auch mehr als nur einmal dazu auf, einen Kreuzzug ins Heilige Land zu organisieren, bzw. sich an einem zu beteiligen.
Seine Minnelieder sind hingegen dann sehr progressiv. Die frühen allerdings folgen noch dem klassischen Schema der Minne-Lyrik. Der Mann, der Minnesänger, verehrt seine Dame von weitem, ohne Hoffnung auch nur darauf, von ihr bemerkt zu werden. Solche Minnelieder sind immer auch von einem traurigen Grundton bestimmt, der in der vorweg genommenen Nicht-Erfüllung der Wünsche liegt. Mit der Zeit allerdings werden Walthers Lieder gewagter. Am Schluss seiner Karriere versteigt er sich sogar zur Aussage, dass dieses Ungleichgewicht im Minnesang zwischen Mann und Frau aufgehoben werden soll. Er besingt nun nicht nur unerreichbare edle Damen sondern auch niedere(re) Mägdleins und Fräuleins, die aber den Vorteil haben, für den Minnesänger auch wirklich erreichbar zu sein. (Wenn wir übrigens von einem Minnesänger schreiben, so ist das wörtlich zu nehmen. Ein Minnesänger schrieb nicht nur einen Text, er komponierte auch eine Musik dazu – und trug das Ganze selber vor. Wir würden heute von einem Liedermacher bzw. ‚Singer-Songwriter‘ sprechen.)
Jeder, der Liebeslyrik mag, sollte Walther lesen.
Meine Ausgabe:
Walther von der Vogelweide: Sämtliche Lieder. Mittelhochdeutsch und in neuhochdeutscher Prosa. Mit einer Einführung in die Liedkunst Walthers herausgegeben und übertragen von Friedrich Maurer. München: Wilhelm Fink Verlag, 61995. (= UTB 167 [aus einer Zeit also – die 1. Auflage stammt von 1972 –, als bei der Reihe UTB noch wichtige und interessante Primärtexte erschienen und nicht Bücher à la Wie interpretiere ich ein Gedicht? oder Kritiken schreiben oder, um noch ein letztes zu zitieren: Das Taschenbuch. Alle genannten Titel sind dem Gesamtverzeichnis, Abteilung „Literaturwissenschaft“, vom Mai 2022 entnommen. Die philosophischen Titel mag ich gar nicht erst nennen.])