Als dieser Roman von H. G. Wells 1895 erschien, war sein anonymer zeitreisender Protagonist ja nicht mehr der erste seiner Art. Schon vor Wells hatten Edward Bellamy, Louis-Sébastien Mercier oder William Morris Leute in die Zukunft reisen lassen. Auch Mark Twains Connecticut Yankee reiste in der Zeit – er allerdings rückwärts aus dem 19. Jahrhundert in die Zeit des sagenhaften englischen König Artus. Dennoch dürfen wir sagen, dass Wells das Genre der Zeitreisen zwar nicht erfunden, aber grundlegend umgestaltet hat.
So ist sein Zeitreisender der erste, der willentlich und kontrolliert in die Zukunft reist. Die Protagonisten von Bellamy, Mercier und Morris wurden ohne ihr Wissen und ohne Einwilligung im Schlaf in die Zukunft versetzt. (Wells hat dieses Motiv in einem späteren Roman ebenfalls verwendet.) Mark Twains Connecticut Yankee ist der einzige, dem’s der Herr Autor nicht im Schlaf gegeben hat: Er ‚reist‘ auf Grund eines Fausthiebs, den er in einer Schlägerei erhalten hat.
Wir können Wells‘ Roman auch als erste Science Fiction-Zeitreise bezeichnen, denn der Autor versucht zumindest, dem Reisen in der Zeit eine mathematisch-wissenschaftliche Grundlage zu geben. (Zugegeben: Viel mehr als die Aussage des Zeitreisenden, dass die Zeit eine vierte Dimension sei, die analog den drei Dimensionen des Raums funktioniere, liefert Wells nicht. Es wird eine Zeitmaschine gebaut, aber wie sie funktioniert, verschweigt deren Hersteller ebenso wie sein Autor. Aber ja: Den Begriff „Zeitmaschine“ hat auch Wells geprägt.)
Last but not least war es das Ziel von Bellamy, Mercier und Morris ihrem Publikum ihre ideale Verfassung, ihren Idealstaat, in einer mehr oder weniger fernen Zukunft zu zeigen – so auch ihren festen Glauben zeigend, dass sich ihre Prognose eines Tages realisieren würde. Wiederum nimmt Mark Twains Connecticut Yankee eine Sonderstellung ein: Seine Vergangenheit war alles andere als ideal; in vielem stellte sie eine satirische Überspitzung der Verhältnisse der damaligen USA vor. Wells‘ Zukunft – und hiermit war er der erste von einer langen Reihe von Nachfolgern, die in die Zukunft blicken würden – Wells‘ Zukunft also ist keine schöne Frieden-Freude-Eierkuchen-Utopie, sondern weist starke dystopische Züge auf, und auch Elemente von Horror.
Erzählt wird die Geschichte des Zeitreisenden innerhalb einer Rahmenerzählung, in der ein erster Ich-Erzähler von einem Abend in Gesellschaft bei einem Londoner Freund erzählt – eben dem, der die Zeitmaschine erfunden hat. Ein Wort gibt das andere, und schließlich verreist der Freund auf seiner Maschine, um drei Stunden später zurück zu kehren. Nach einer kurzen Phase der Wiederherstellung seines äußeren und inneren Ich erzählt dann unser Chrononaut (seinerseits in der Ich-Form) seine Abenteuer. Er ist in die Zukunft gereist, ins Jahr 802701 unserer Zeitrechnung. Die Menschheit, stellt sich heraus, gibt es in ihrer aktuellen Form nicht mehr. Es gibt statt ihrer – und aus ihr hervorgegangen – zwei Lebensformen: die Eloi und die Morlocks. Die Eloi leben ein überirdisches Leben, das auf den ersten Blick paradiesisch erscheint. Die Morlocks leben unter der Erde. Während der Erzähler die Eloi als freundliche, in Gestalt und Verhalten aber sehr kindliche Wesen beschreibt, hat er für die Morlocks nur Abscheu übrig. Es stellt sich heraus (oder der Erzähler glaubt das zumindest kombinieren zu können), dass die Eloi die Nachfahren der Kapitalisten des 19. Jahrhunderts sind, die Morlocks die der Arbeiter. (Tatsächlich macht Wells hier genau das, was Lem später Science Fiction-Autoren und Futurologen als kapitalen Fehler vorhalten wird: Er nimmt Tendenzen der eigenen Zeit und vergrößert sie ins Unendliche, um eine Zukunft vorher zu sagen. Es war zu seiner Zeit wirklich der Fall, dass Arbeiter mehr und mehr in Kellern und Gewölben arbeiten sollten, während die Kapitalisten die schönen Flecken Londons aufkauften und untereinander aufteilten, die Arbeiter bewusst daraus ausschließend.)
Die Geschichte weist auch sonst einige logische Lücken auf. So werden die kindlichen Eloi als Wesen beschrieben, die sich um nichts kümmern und mit einer Ausnahme keine Sorgen kennen und keine Planung für die Zukunft. Das macht es allerdings zum Rätsel, wie genau sie sich ernähren können. Sie sind Veganer, ja, sie sind sogar rein fructivor, ernähren sich nur von Früchten. Aber selbst wenn wir zugeben, dass das Klima Londons in achthunderttausend Jahren wärmer sein mag: Ich glaube nicht, dass Fruchtbäume nicht trotzdem gepflegt werden müssen. Und wie die Eloi als Rasse Bestand halten können, ist mir ebenfalls schleierhaft. Wells spricht zwar einmal davon, dass diese unbekümmerten Wesen auch unbekümmert und in aller Öffentlichkeit Liebe machen würden. Aber, so wie Wells sie schildert, sind diese Eloi niemals in der Lage, Kinder aufziehen zu können.
Wells beruft sich hier explizit auf Darwins Evolutionstheorie; sein Verständnis davon ist aber offenbar recht krude – im Grunde genommen ein simplifizierender Sozialdarwinismus übelster Sorte. Hinzu kommt, dass, während die Eloi mit Kindern – also Menschen – verglichen werden, er für die Morlocks nur Vergleiche mit der Tierwelt übrig hat. Das kann nicht nur daran liegen, dass die Morlocks – im Gegensatz zu den Eloi – nach wie vor karnivor leben. (Denn etwas vom Ersten, das unser Zeitreisender tut, nachdem er in seiner Wohnung in London zurück ist: Er verschlingt eine riesige Portion Fleisch!) Schon längst sind in dieser Zukunft aber alle großen Warmblüter außer ein paar Vögeln ausgestorben. Folgerichtig ernähren sich die Morlocks – von den Elois, die sie nachts jagen. Das, und die ihnen fehlenden Pigmente in der Haut, bringt den Zeitreisenden dazu, sie immer wieder mit hässlichen, wilden Tieren zu vergleichen. Dieses Verständnis des Tiers als brutales und gefühlloses Wesen entspricht zwar der Zeit, aber dass der selbst ernannte Sozialist Wells die Abkömmlinge der Arbeiterklasse so qualifiziert, stimmt doch nachdenklich. Dabei ist der Zeitreisende selber auch ein ziemlich roher Kerl. Er hat zwar eine Eloi, die sich beim Baden im Fluss zu weit hinaus wagte und abgetrieben wurde, vor dem Tod durch Ertrinken gerettet. Diese Eloi, sie nennt sich Weena, folgt nun in einer Art kindlichem Vertrauen dem großen Menschen auf Schritt und Tritt. Es ist kein Liebesverhältnis, das Wells hier beschreibt, eher das Verhältnis von Pate zu Patenkind. Er nimmt Weena auch mit, als er sich auf einen großen Fußmarsch begibt, um einer riesige grüne Porzellan-Konstruktion aus der Nähe anzuschauen. Unterwegs kommt es aber zu einer Schlacht mit den Morlocks. Der Mensch des 19. Jahrhunderts weiß sich nicht anders zu helfen, als einen ganzen Wald anzuzünden. Leider verliert er in der Schlacht die ohnmächtig gewordene Weena und sie fällt den Morlocks in die Hände. Er trauert wohl ein wenig um sie, aber tröstet sich zugleich damit, dass das Feuer sie vor dem schlimmen Schicksal bewahrt habe, den Morlocks als Nahrung zu dienen. Ich weiß nicht, verehrter Zeitreisender, ob es nun ein besseres Schicksal ist, bei lebendigem Leib zu verbrennen als kurz und schmerzlos getötet zu werden. (Denn die Weiterverarbeitung hätte sie ja nicht mehr gespürt.)
Schließlich ist da noch ein physikalisches Problem, das Wells nicht lösen konnte. Sein Zeitreisender spricht davon, dass sich seine Maschine nur in der Zeit bewegen könne, nicht auch noch im Raum. Er will damit sagen, dass er damit immer an dem Ort (aktuell in seinem Arbeitszimmer) bleibt, an dem sie aktuell steht. Tatsächlich muss sie sich aber so auch im Raum bewegen, denn sie macht nicht nur die Umdrehungen der Erde mit, die für Tag und Nacht sorgen (der Zeitreisende erzählt das explizit!), sie macht offenbar auch die Umkreisungen der Sonne mit (wiederum: der Zeitreisende erwähnt explizit Schnee!) – ja, die Zeitmaschine macht auch jene Bewegung mit, die der Zeitreisende dem jüngeren Darwin zuschreibt, nämlich dass die Erde sich im Lauf der Jahrtausende immer mehr der Sonne annähert. H. G. Wells liefert keine Erklärung dafür, und das ist vielleicht auch besser so, denn jede Erklärung würde das Phänomen nur unwahrscheinlicher machen.
Alles in allem: eine nette Lektüre für zwischendurch. Zu sehr darüber nachdenken sollte man aber nicht; dafür weisen Geschichte und Autor zu viele Löcher auf.