Dieses Buch war zugleich der Anfang und das Ende. Oder zumindest der Anfang vom Ende – dem Ende von Nietzsches Karriere als Universitätsprofessor für Altphilologie nämlich. Dabei hatte er diese Karriere nachgerade als eine Art Wunderkind in Angriff genommen. Gerade mal 25 Jahre alt war er, als er als außerordentlicher Professor für Altphilologie an die Universität Basel berufen wurde. Nur ein Jahr später, 1872, veröffentlichte er vorliegendes Werk und sein Ruf als Altphilologe war zerstört, denn seine Zunftgenossen fanden darin jede Menge historischer Fehler. Im der Veröffentlichung folgenden Semester hatte Nietzsche gerade einmal zwei Studenten in seiner Vorlesung – einen Juristen und einen Germanisten. (Was, nebenbei bemerkt, meine Vermutung bestätigt, dass diese beiden Fächer bzw. deren Studierende am anfälligsten sind für merkwürdige Theorien jeder Art.)
Nietzsche, das müssen wir ihm zu Gute halten, wollte wahrscheinlich im Grunde genommen gar kein altphilologisches Buch verfassen. Jedenfalls schließe ich das aus der Tatsache, dass er es – als einziges aus dieser Periode, als einziges mehr oder weniger altphilologisches – 1886 (also 14 Jahre später) noch einmal veröffentlichte, dieses Mal unter einem etwas anderen Titel (Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus). Das einzig Neue bei der zweiten Auflage war ein zusätzliches Vorwort, Versuch einer Selbstkritik. Darin distanzierte sich Nietzsche von seiner allerdings auffallenden Anlehnung an Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung und nahm auch seine überbordende Wagner-Verehrung zurück – ohne aber am Wortlaut des Originaltextes, auch nicht des Vorwort[s] an Richard Wagner, ein Jota zu ändern.
Tatsächlich ist das vorliegende Buch kein altphilologisch-wissenschaftliches Werk. (Nietzsche kritisiert im Gegenteil genau diese Art von Wissenschaft explizit.) Es ist der Versuch einer genetischen Ableitung und Definition des Wesens der Kunst. Als Exempel dient Nietzsche dabei die Entwicklung der Tragödie im antiken Griechenland und der von ihm postulierte Zusammenhang dieser Entwicklung mit der Entwicklung der Musik. Die Musik nämlich, so Nietzsches Theorie, war zunächst getragen, harmonisch, ruhig – apollinisch. Dann kam von Indien die Verehrung des Gottes Dionysos nach Griechenland, und mit ihr eine andere Art von Musik – persönlich, wild, die Gefühle der Hörenden aufwühlend. Diese dionysische Musik brach ins Revier des Apollinischen ein. Es gelang dem Dionysischen zwar nicht, das Apollinische vollständig zu überwältigen – genau so wenig wie umgekehrt das Apollinische des Dionysischen Herr wurde. Es bildete sich eine Art Kompromiss: die antike Tragödie mit einer stark apollinisch gefärbten Handlung der Schauspieler und einem stark dionysisch geprägten begleitenden, kommentierenden und (mit-)leidenden Chor.
So weit, so gut. Aber das ist nicht das Ende der Entwicklung, wie sie Nietzsche sieht. Denn dieser Kompromiss sollte nicht lange halten. Schuld daran war, so der Autor, ein einziger Zuhörer: Sokrates. Dieser, fragend und analysierend, zerstörte das labile Gleichgewicht der Kräfte. Es entstand ein raisonnierendes Theater. Waren Äschylos und Euripides die Vertreter der apollinisch-dionysischen Misch-Tragödie, so ist der Zeitgenosse des Sokrates, Sophokles, der Vertreter der sokratisch-alexandrinischen Form. (Unter alexandrinisch versteht Nietzsche offenbar die Wissenschaft des Hellenismus, die jede Erscheinung, ob natürlich oder künstlich entstanden, einer Analyse zu unterwerfen beginnt.)
Erst die deutschen Klassiker, allen voran Schiller und Goethe, haben nach Nietzsche dann versucht, den echt antiken Geist wieder zu finden und wiederzubeleben. Sie sind aber nach ihm letztlich gescheitert, denn das Begriffspaar des Naiven und des Sentimentalen konnte den antiken Griechen nicht gerecht werden. Erst jetzt (in Nietsches „Jetzt“, also 1872) ist wieder eine Gestalt erschienen, die abermals das Dionysische in die Kunst einzuführen vermag. Bezeichnenderweise handelt es sich abermals um einen Musiker – Richard Wagner.
Das Buch wurde von den Altphilologen der Zeit kaum beachtet, und von den übrigen Zeitgenossen waren es vor allem zwei, deren Reaktionen positiv ausfielen. Der eine war – natürlich – Richard Wagner selber (inklusive seiner Entourage: Gattin Cosima und deren erster Mann, der Dirigent Hans von Bülow). Der andere war der Basler Historiker Jacob Burckhardt. Er teilte ja mit Nietzsche zwei grundlegende Gedanken, die in diesem Buch hier Ausdruck fanden. Beide sahen im Denken des antiken Griechenland eine stark ausgeprägte pessimistische Ader. Und beide verehrten sie – jedenfalls zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung des Buchs – den Philosophen des Pessimismus, Arthur Schopenhauer. Auch den Gedanken des Einbruchs von dionysischer Musik in Gefilde, die dem Gott Apollon geweiht waren, finden wir in Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte formuliert – wenn auch nur in einem Nebensatz. Über Prioritäten zu diskutieren ist müßig. Schon Winckelmann (den Nietzsche kannte und schätzte) verwendet die beiden Begriffe. Ich vermute sogar, dass Hölderlins Gegenüberstellung von organischem Handeln und aorgischer Natur im zweiten Entwurf seines Der Tod des Empedokles bei der Form, die Nietzsche dem Zusammenhang von Apollinischem und Dionysischem gab, hinein gespielt hat. Nietzsche kannte und schätzte auch Hölderlin. Allerdings ist, was bei Hölderlin ein dialektisches Verhältnis der beiden Begriffe war, bei Nietzsche mehr eine Art Amalgam (oder eben: ein Kompromiss).
Fazit: Die historische Entwicklung, die Nietzsche gesehen haben will, existiert sicher nicht. Aber als mehr psychologische denn historisch-genetische Theorie des Entstehens von Kunstwerken (also eine Individual-Ästhetik) zumindest ein bemerkenswerter, prä-freudianischer Ansatz. Allerdings kämen heute wohl weder Philosophen noch Psychologinnen auf den Gedanken, die Entstehung eines Kunstwerks auf diese Weise zu erklären.